Ausgabe 12 12/99

Neue Scheiben aus Irland

Die FolkWorld Kolumne für Liebhaber irischer Musik, zusammengestellt von Axel Schuldes

Gemessen an ihrer aktuellen Veröffentlichung Live in Seattle haben Martin Hayes & Dennis Cahill wirklich eine Top-Auszeichnung verdient. Hayes ist wahrscheinlich der wichtigste Roots-Fiddler seiner Generation. In dem Gitarristen Dennis Cahill hat er vor geraumer Zeit einen perfekten Partner gefunden, der sich mit gleichem Enthusiasmus subtiler Innovation verschrieben hat. Trotz der überragenden Qualitäten seiner Studioproduktionen wurde Martin Hayes immer wieder bedrängt, doch einmal ein Konzert mitschneiden zu lassen und auf CD zu veröffentlichen. Gesagt, getan, am 31. Januar ließ er bei seinem Auftritt in der Tractor Tavern ein Band mitlaufen. Das war eine gute Idee, denn nun kann sich bei uns daheim ein wenig von jener einzigartigen Live-Energie ausbreiten, die Hayes/Cahill-Konzerte so berühmt gemacht hat. Das zweite der fünf Sets hier dauert nahezu eine halbe Stunde. Wer außer diesen beiden darf und kann solch einen Marathon-Ausflug riskieren? Es gelingt ihnen mühelos, von der ersten bis zur letzten Sekunde eine derartig spannungsgeladene Dichte zu schaffen, wie andere sie kaum für drei Minuten aufrecht zu erhalten vermögen. Absolut faszinierend!

photo by The Mollis Ein anderer Fiddler, den man unbedingt mal im Auge behalten sollte, ist Kevin O'Connor. Er ist zwar schon seit zehn Jahren ein bekanntes Gesicht auf der Dubliner Szene, aber erstmals für die Öffentlichkeit in Erscheinung getreten ist er als Gastmusiker auf der 96er Solo-CD der süperben Flötenspielerin Emer Mayock. Und die ist jetzt auch - gemeinsam mit Tony McManus, Trevor Hutchinson und Paul Kelly - auf Kevins erster Solo-CD vertreten, die den bildhaften Titel From the Chest trägt. Sie ist geprägt von abwechslungsreichen Arrangements und einer Vielfalt an Stilen und Stimmungen. Schön auch, daß die irischen Klangfarben ergänzt werden um Tunes aus Spanien und aus der Bretagne. Wer seit 1995 vergeblich nach einer ähnlich schönen CD gesucht hat wie The Wishing Tree von Séamus McGuire, der kann endlich fündig werden.

In noch höherem Maße auf internationales Repertoire setzt die Frauenband Bumblebees auf Buzzin', ihrer zweiten CD. Sie entfachen eine quicklebendige Mixtur von Melodien aus Irland, Schottland, Cape Breton, Kanada und Dänemark, angereichert durch die eine oder andere Eigenkomposition. Zum Trio Laoise Kelly (Harfe), Mary Shannon (Banjo und Mandoline) und Colette O'Leary (Akkordeon) ist die Fiddlerin Liz Doherty gestoßen, so daß die Damen nun als Quartett noch mehr Druck machen können. Was die Qualitäten dieser Formation anbelangt, so bin ich dummerweise auf ein Zitat gestoßen, das mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Dann will ich mich auch gar nicht abmühen, es umzumodeln, sondern gebe es zum besten: "Individually they are brilliant - collectively they are dynamic!" Stimmt so.

Drawing by German artist Annegret Haensel Es ist ja ziemlich in Mode gekommen, alte Aufnahmen nochmals neu einzuspielen. Selten aber nur erreichen die Neuaufnahmen den Reiz der Originale. So war ich doch recht enttäuscht, als ich kürzlich The Austin Sessions von Kris Kristofferson hörte: Die mit hochkarätigen Partnern neu eingespielten Versionen seiner "Hits" der Jahre 70/71 hatten nichts vom eckigen Charme der alten Aufnahmen. Die erfreuliche Ausnahme von der Regel ist Angels' Candles von Máire Breatnach - in der ursprünglichen Version eines der schönsten Alben des Jahres 1993! Damit verhält es sich wie mit einem guten Wein. Diese ohnehin schon wunderbare Musik ist über die Jahre gereift und hat noch mehr an Glanz und Tiefe gewonnen. Was wir im Heft 1-94 über das Original sagten, gilt für die neue Version nun erst recht: "Schiere Spielfreude und wunderbare Melodien machen diese CD zu einem Muß für alle, die auch nur im entferntesten an irischer Musik Gefallen finden!" Wer übrigens Freude an wirklich gut gemachten Musiker-Homepages hat, der sollte Maire Breatnach mal besuchen. Davon können sich viele ihrer Kollegen durchaus eine Scheibe abschneiden, denn diese Seite ist nicht nur von der Optik her sehr schön aufgemacht, sondern auch höchst informativ.

Keith Donald, Saxophon: Da fallen uns doch sofort die legendären Moving Hearts ein, die mit ihren treibenden, rockgetränkten Folkklängen irische Musikgeschichte geschrieben haben. Um so überraschender ist das, was uns aus den Lautsprechern entgegenperlt, wenn The Calm After the Storm im Player liegt. Es klingt ein wenig nach New Age, aber ... angenehm. Das Repertoire besteht ausschließlich aus Slow Airs, die allesamt von Keith und Máire Breatnach arrangiert und eingespielt wurden. Mal klingt es traditionell, dann wieder weht ein Hauch von Klassik durch die Melodien oder auch ein Anflug von Jazz. Tja, wenn meditative Musik mal immer so klänge und mal immer derart virtuos zelebriert würde, dann hätte ich wahrscheinlich weitaus mehr für dieses Genre übrig. Sollte jemand auf die Idee kommen, mich zu einem beschaulichen Abend am Kaminfeuer einzuladen, so wäre es exakt diese CD, die ich mitbringen würde. Nur müßte ich mir am kommenden Tag dann ein neues Exemplar organisieren, weil der Gastgeber diese traumhafte Platte mit Sicherheit für seinen Eigenbedarf konfisziert hätte ... Und überhaupt: Ein Saxophon, das ist doch ein wundervolles Instrument - warum hören wir das nicht weitaus öfter im Kontext Irish Folk?! Hat denn außer Keith Donald und Richie Buckley niemand so recht Lust, auch mal mit Folkies zu jammen? Merkwürdig, in der Tat sehr merkwürdig.

Keith Donald und Máire Breatnach waren auch an den Aufnahme-Sessions zur neuen CD des Pipers Eoin Duignan beteiligt. In den hatte ich bereits 1993 große Hoffnungen gesetzt, als ich schrieb: "Eoin Duignan hat noch keinen großen Namen, aber mit Coumineol schlägt er - von der Tradition kommend - neue Wege ein, die sehr vielversprechend klingen. Neben seinen überzeugenden Fähigkeiten auf den Pipes und auf der Low Whistle hinterläßt die ausgereifte Qualität der stimmungsvollen Eigenkompositionen einen tiefen Eindruck." Diese Beschreibung trifft auch auf Ancient Rite , seine neue CD, zu. Man hört der Musik an, daß Duignan unter anderem seinen Lebensunterhalt damit verdient, Filmmusiken zu schreiben. Seine Melodien erzählen Geschichten ohne Worte. Philip King, allen wahrscheinlich als Produzent von Bringing It All Back Home bekannt, formuliert es so: "There is heart and soul in this music; gentle and generous, these tunes bring you into the home of all good music - where it is always played from the heart!" So schön und so treffend läßt's sich auf Deutsch leider nicht formulieren, ergo passe ich an dieser Stelle. Aber einen Nachsatz muß ich doch noch unbedingt loswerden: Ein besonders dickes Lob gebührt dem fabelhaften Gitarristen Robbie Overson, der dieser ohnehin schon äußerst gelungenen Produktion noch einige zusätzliche Glanzlichter aufsetzt! Und ich hatte schon befürchtet, der sei nach seiner Zeit mit Scullion in der Versenkung verschwunden ...

Helen Shantalla ist eine fünfköpfige irisch-schottische Formation um den Fiddler Kieran Fahy aus Co. Galway, die ihre Residenz in Belgien aufgeschlagen hat. Das Etikett "Europe's best-kept Celtic secret" mag ja noch angehen. Was aber für die Band sicherlich eher eine Belastung denn eine Ermunterung ist, das sind die ständigen Vergleiche mit der legendären Bothy Band. Fast habe ich den Eindruck, daß sich unter diesem enormen Erfolgsdruck Shantalla bei den Instrumentals dazu hinreißen läßt, einen Tick zu sehr aufs Gaspedal zu treten. Was aber keinesfalls darüber hinwegtäuschen sollte, daß es sich um eine wirklich gute Gruppe mit eigenem Profil handelt. Ihre Debüt-CD Shantalla ist ein durchaus interessanter Tip für alle, die De Dannan und Dervish zu ihren Lieblingen zählen - gelegentlich aber doch ein wenig bedauern, daß beide Ensembles keine Uilleann Pipes auffahren. Die gibt's bei Shantalla.

Flook, Press photo Einer d e r überragenden Live-Acts auf der Folk-Szene ist das englisch-irische Quartett Flook!. Sicherlich ist es schade, daß der Flötist Michael McGoldrick nicht mehr dabei ist, aber mit John Joe Kelly ist ein sensationell guter Bodhran-Spieler zu der Truppe gestoßen. Und die Flöte ist ja weiterhin mit Brian Finnegan noch top besetzt. Die quirlige Sarah Allen an Akkordeon und Flöte und der Fingerpicker Ed Boyd komplettieren das Ensemble. Nach dem Flook!-Auftritt im Hammersmith hieß es in der Irish Post: "The most magical of experiences!" Wobei das Interessante ist, daß das Blatt mit seiner euphorischen Begeisterung beileibe nicht alleine steht; andere CD- und Konzert-Kritiken werden ähnlich ungebremst formuliert. Was damit zu tun hat, daß diese Gruppe nun mal tatsächlich eine echte Schau ist. Und das mit dem "Handicap", gänzlich auf Gesungenes zu verzichten! Was immer auch ein Flatfish sein mag, es muß sich dabei um was ganz Besonderes handeln. Vielleicht um ein Passwort zu einem außergewöhnlichen Musikerlebnis? Also, wer auf traumhaftes Ensemblespiel steht - hier heißt es: Zugreifen, Hören, Staunen! (Die CD ist auch in der aktuellen FolkWorld zu gewinnen!

Es ist schon verrückt, daß nur wenige Monate nach Tom Russells The Man from God Knows Where nun schon wieder eine überragende "irische" Platte aus den USA kommt, wo sie unter Federführung eines amerikanischen Musikers entstanden ist. Sein Name, Tim O'Brien, klingt ja immerhin ein wenig irisch, tatsächlich ist der Mann aber einer der ganz Großen der Bluegrass-Szene und keineswegs ein Irish Folkie. Nichtsdestotrotz hält sein Nachname dann doch, was er verspricht: Tim O'Briens Vorfahren waren irische Emigranten, The Crossing ist das musikalische Resultat seiner Ahnenforschung, die er betreibt, seit er 1973 Kevin Burke auf Arlo Guthries LP Last of the Brooklyn Cowboys hat fiddeln hör'n. Ähnlich wie 1991 das irische Projekt Bringing It All Back Home stellt dieses Album so etwas wie ein "missing link" zwischen der irischen und der amerikanischen Musik dar - halt nur von der anderen Seite des breiten Atlantiks aus. Diese Reise in die keltische Seele entstand unter engagierter Mitwirkung diverser irischer Musiker aus der Superliga, die Produktion ist absolut makellos, die Klangqualität - noch eine Parallele zur Tom Russell-CD! - ist schlichtweg perfekt. Diesem Werk werden wir bei den Platten des Jahres wiederbegegnen, das ist sicher.

Zwei der schönsten Irish-Folk-Platten des vergangenen Jahres wurden jetzt auf deutschen Labels wiederveröffentlicht und sollten mithin endlich ohne Komplikationen zu bekommen sein. Zum einen wären dies die von Benny O'Carroll initiierten Sessions from the Hearth - ein Feuerwerk an "trad music at its very best", geprägt von Integrität und Klasse! Und zum anderen wäre da Damp in the Attic, ein All-Star-Trio, das auf I Was ... Flyin' It allerfeinste Musik aus Co. Clare brillant zum Klingen bringt. Schön, daß die exzellente Einspielung von P.J. King, Martin Murray und Cyril O'Donoghue kein Geheimtip bleiben muß, sondern nun eine reelle Chance hat, in die Regale der Folk-Friends zu gelangen.

Drawing by German artist Annegret Haensel So gut wie nichts getan hat sich im Bereich Back Catalogue. Nennenswert wäre da lediglich die Best of-Compilation Nobody Knows von Paul Brady. Daß die Fans sogleich aufjaulen würden, weil bei nur 14 Tracks natürlich etliche Favoriten auf der Strecke bleiben, das hat Paul Brady schon vorausgeahnt. Und so entschuldigt er sich bei ... diversen dieser übergangenen Songs und stellt ihnen in Aussicht, beim nächsten Mal berücksichtigt zu werden (aha, wenn das mal nicht stark nach Volume 2 riecht!). Trotzdem werden echte Sammler um diesen Sampler nicht drumherumkommen, denn drei Songs tauchen hier in abweichenden Versionen auf. Der Clou jedoch: "The Lakes of Pontchartrain" und "Arthur McBride" hat Paul Brady nach über 20 Jahren ein weiteres Mal aufgenommen und singt diese Genre-Klassiker heute nicht minder hinreißend als dereinst für und auf Mulligan Records!

Leider erst knapp vor Redaktionsschluß (nicht FolkWorld's Redaktionsschluß, Anm. d. Her.) trafen die ofenfrischen Neuerscheinungen von Lúnasa, Geraldine MacGowan und Loreena McKennitt ein. Diese hochinteressanten Novitäten werden mit Sicherheit im nächsten Heft eingehender vorgestellt. Und natürlich auch die avisierten CDs von Christy Moore und Maighread & Tríona Ní Dhomhnaill! Das verspricht

Axel Schuldes

Zeichnungen von Annegret Haensel; mehr Infos zur Künstlerin auf ihrer Homepage
Photos: (1) Fiddle & Flute; by The Mollis; (2) Helen Flaherty of Shantalla, press pic; (3) Flook, press pic

Originalabdruck: 'irland journal' 6/99 (Christian Ludwig Verlag, Dorfstr. 70, 47447 Moers).

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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 12/99

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