FolkWorld Artikel von Michael Moll:

Junge Dorfmusik aus Warschau

'Kapela ze wsi Warzsawa' hauchen der polnischen Szene frischen Wind ein


Kapela ze wsi Warzsawa; photo by The Mollis Auch wenn Polen inzwischen schon mit einem Bein in der EU steht, für Deutsche (besonders für solche aus dem Westen Deutschlands) ist Polen noch immer eher der unbekannte Nachbar, auch in der Folkszene. Und das, obwohl die polnische Folkszene derzeit sehr lebendig ist. Kapela ze wsi Warzsawa ist eine der hervorragenden Bands, die Polen in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Im Sommer war diese innovative Band auf dem Tanz und Folk Fest in Rudolstadt, und FolkWorld nutzte die Gelegenheit, um ein wenig mehr über die polnische Szene zu erfahren.

Folk ist im Moment äusserst populär in Polen, ist eine Art Modeerscheinung. Die Szene existiert allerdings gerade erst seit Anfang der 90er Jahre, erklärt Maciej, Trommler in der Band. Es gebe derzeit etwa 90 verschiedene Bands, die sich grob in drei Sektoren einteilen lassen: "Erst einmal diejenigen, die Folkmusik in seiner authentischen traditionellen Form rekonstruieren. Dann gibt es jene Bands, die modern und ethnische Elemente in die Musik einführen; im Moment ist 'Kapela ze wsi Warzsawa' wohl die einzige Band, die so etwas macht. Schließlich gibt es noch Gruppen, die auch Instrumente aus anderen Ländern und Kulturen in die traditionelle Musik eingeführt haben, die aber recht kommerziell sind und mehr Mainstream spielen."

Kapela ze wsi Warzsawa; photo by The Mollis In Polen gibt es auch viele Festivals, wenngleich die meisten nicht besonders groß sind. Zum Beispiel gibt es in Zabkowice Slaskie ein Festival, das so eine Art Ableger des TFFs Rudolstadt ist, und am selben Wochenende stattfindet. Die Bedeutung, die Folkmusik derzeit in Polen innehält, zeigt die Tatsache, dass eines der größten Pop- und Schlagerfestivals seit dem letzten Jahr seinen ersten Tag vollständig ethnischer Musik widmet.

Schon in den 70er und 80er Jahren gab es einige Bands, die Folkmusik mit diversen Einflüssen anderer Kulturen spielten. Zu jener Zeit existierten diese Bands allerdings, ohne dass es irgend jemand in Polen wusste; sie traten auch in erster Linie im Ausland auf. Maciej glaubt, dass die wichtigste Entwicklung der polnischen Folkszene die Gründung des "Saint Nicholas Orkiestra" in 1990 war. "Sie spielten Musik, die sehr lebendig auf typisch polnische Weise interpretiert war. Diese Band stieß im Prinzip die ganze Szene an, und brachte Folkmusik auch in Studentenkreise. Das Saint Nicholas Orkiestra repräsentierte einen Musikstil, der auf alten Instrumenten basierte, die nicht mehr benutzt werden. Die Musiker fingen an, alte Instrumente in den Dörfern zu suchen, und nach Leuten forschten, die diese Instrumente noch spielen konnten. Sie holten ihre Inspiration von verschiedenen Kulturen, von polnischer Musik, Klezmer und jiddischer Musik, Musik aus den Karpaten, Balkanmusik. Heute ist die Band allerdings ziemlich weit weg von purer traditioneller Musik..."

Kapela ze wsi Warzsawa; photo by The Mollis Die alten Leute, die noch die alten Instrumente spielen können, waren auch die Hauptinspiration der Musiker der Kapela ze wsi Warzsawa. Die meisten der Band haben die Musik mit Hilfe dieser Menschen autodidaktisch gelernt. "Wir sind durch die Dörfer gereist und haben die alten Leute aufgesucht; wir haben uns ihre Musik und ihre Geschichten angehört. Und was uns im Prinzip sehr verwundert hat, war, dass sich auf den Dörfern keiner mehr für die Musik interessiert. Das sind alte Menschen, und mit diesen Menschen stirbt die Musik aus." Nur durch diese alten Menschen wissen die Musiker, wie die Instrumente traditionell gespielt werden. "Sie haben sich die Zeit und Mühe gegeben haben, uns das beizubringen, weil sie sich gesagt haben, wenn Ihr das nicht macht, macht das keiner mehr. Wir haben das Gefühl bekommen, dass wir die Auserwählten sind, die die Tradition weiterführen müssen. Und dass das die einzige Chance ist, die Traditionen überhaupt zu erhalten."

Die Musik der 'Kapela ze wsi Warzsawa', was soviel bedeutet wie "Die Band aus dem Dorf, das Warschau heißt", ist etwas vollkommen neues für die meisten Polen. Als sie zum ersten Male zusammensaßen und auf Trommeln und Geigen spielten, ernteten sie großes Erstaunen. "Niemand in Warschau hatte je zuvor diese Art von Musik gehört."
Das interessanteste Instrument der Kapela ist sicherlich die Suka, die Anna spielt: eine alte polnische Form der Geige aus dem 16. Jahrhundert, deren Saiten mit den Fingernägeln gespielt werden. Die anderen drei jungen Frauen in der Band spielen Geige und Cello, während die beiden Männer Trommeln spielen.
Kapela ze wsi Warzsawa; photo by The Mollis Die Frauen singen mit sehr kräftigen Stimmen; zum Teil klingt der Gesang etwas schrill, aber immer extrem kraftvoll und beeindruckend. "Der Gesang basiert auf der so genannten "weißen Stimme", eine spezielle alte Gesangstechnik, die von den Hirten abstammt, die aus voller Kehle geschrien haben. Hinzu kommt die traditionelle Spieltechnik auf alten polnischen Instrumenten."
Diese Kombination, und insbesondere die Tatsache, dass die Kapela zwei Trommeln einsetzt, ist wohl einmalig in der polnischen Szene. Dabei ist hervorzuheben, dass diese Trommeln und die Rhythmen traditionell polnisch sind. "Typisch ist der Rhythmus", erklärt Maciej, "der Rhythmus ist das wichtigste. Wir wollen zeigen, dass es nicht immer Schlagzeug sein muss, sondern dass es auch europäische Instrumente gibt, die diese Funktion erfüllen können, und auf die wir eigentlich stolz sein können. Die Menschen begeistern sich für exotische, fremde Kulturen, aber wissen nicht, dass es in Europa auch derartige Instrumente gibt. In der Konfrontation mit und Übernahme von Elementen anderer Kulturen verlieren wir das langsam."

Als die Band 1997 das erste Mal zusammenkam, haben die Musiker angefangen, irgendeinen traditionellen Rhythmus so lange zu spielen, 40 Minuten oder länger, bis sie eine Art von Klangbild gefunden hatte. Für Maciej ist diese Musik im Prinzip eine Art Droge für die Seele, für Musiker und Publikum. Mit der Zeit interessierten sich die Leute für diese seltsame "neue" Musik, die Gruppe wurde immer öfter zu privaten Feiern eingeladen. Als dann irgendwann auch Festivals und Manager Interesse bekamen, musste etwas getan werden: "Wir konnten nicht immer nur 40 Minuten den selben Rhythmus zu spielen, und dann haben wir angefangen, verschiedene Kombinationen zu spielen." Dabei ist aber die Zusammensetzung der Instrumente gleich geblieben, und die Gruppe ist immer den polnischen akustischen Instrumenten treu geblieben.

Kapela ze wsi Warzsawa; photo by The Mollis Vor zwei Jahren hat die 'Kapela ze wsi Warzsawa' ihre Debut-CD eingespielt. Dabei haben sie es hinbekommen, die 60 Minuten der CD innerhalb von einem Tag komplett einzuspielen. "Wir sind ins Studio reingegangen, haben gespielt, und fertig war es. Es sind Klänge, die sehr leicht von der Hand kommen."

Irgendwie erinnert der Klang der Kapela an skandinavische Musik - da ist diese dunkle Schönheit, die rohe Kraft, aber auch die Arrangements und das gewisse Gefühl, das die Musik ausstrahlt. Gibt es bei der Kapela oder in der polnischen Tradition irgendeine Beziehung zum anderen Ufer der Ostsee? "Es gibt in Polen eine große Faszination für schwedische Folkgruppen wie Garmana, Hedningarna, Hoven Droven. Die schwedischen Gruppen sind teilweise wegweisend für die Musik, sie experimentieren sehr viel. Es klingt sehr charakteristisch. Die skandinavische Szene ist in Polen sehr bekannt. Aber es gibt auch traditionell Verknüpfungen zwischen Polen und Schweden. Polen wurde auch im 17. Jahrhundert von Schweden besetzt. Über die Ostsee kamen immer verschiedene Menschen rüber, es gab einen großen Kulturaustausch zwischen den beiden Ländern. Der klassische schwedische Tanz, der Polska, kam aus Polen, und basiert auf der polnischen Polka."


Weitere Infos/Kontakt: homepage der band

Photo Credit: Alle Photos von The Mollis


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"A Musical Journey to Poland" ist ein hochqualitativer Sampler in der Serie "Travellin' Companion" des deutschen Weltwunder Labels, und bietet 14 Titel der neuen polnischen Folkscene. Dieses Album, das auch einen Titel der Kapela beinhaltet, ist sehr empfehlenswert. Eine volle Rezension findet sich bei den englischen CD Rezensionen.
Um teilzunehmen, nenne mindestens drei polnische Bands der neuen Folkszene!
Antworten bis 20/2/2001 an FolkWorld.


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 12/2000

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