FolkWorld Live Review 11/2002 von Walkin' T:-)M:

Zutiefst natürliche Freude

Michelle Shocked im Forum Bielefeld

Es heißt, es gäbe nur eine Gewissheit bei einem Michelle Shocked-Konzert, nämlich, das Unerwartete zu erwarten. Und so kamen die unverzagten Fans des amerikanischen Enfant terribles a long way, um das Chamäleon der US-Singer/Songwriter-Szene abzufeiern. No Bush War ist das Motto von Michelles Europatournee. Und während in den Vereinigten Staaten ihr texanischer Landsmann George W. den Wahlsieg zelebriert, ist man sich in Bielefeld einig: You can't take my joy from me.

Zur Einstimmung dudelt die instrumentale Bonus-CD, Dub-Remixe der neuen Lieder, von Michelles aktuellem Album Deep Natural (2002) im Hintergrund. Michelle ShockedDas Bielefelder Forum ist nur mäßig gefüllt, die Stimmung dennoch ausserordentlich gut. Und, man bedenke, wir befinden uns in Ostwestfalen. Ortskundige wissen, was ich meine.

Michelle beginnt mit Fogtown und 5 a.m. in Amsterdam (-> Texte), zwei Stücken ihres Debütwerkes The Texas Campfire Tapes (1986). Dieses legendäre Album wurde einst mit einem Walkman mit schwachen Batterien auf dem Kerrville Folk Festival aufgenommen. Michelle stand allerdings nicht auf der Bühne, sondern klampfte und sang am Lagerfeuer; die Grillen zirpten im Hintergrund und gelegentlich rollte ein Truck vorbei.

Die Zeiten amerikanischen Lagerfeuer-Folks, wie ich in einer Ankündigung las, sind allerdings vorbei. Mit geschliffener Stimme intoniert sie Soul, Rockabilly, Blues - und gelegentlich Folkiges. Michelle spielt ihre weiße Stratocaster und ihre Begleitband, die Perverse All Stars, setzt sich aus Schlagzeug, Bass und Trompete zusammen.

Gleich danach geht es mit zwei Hits weiter, Anchorage und Memories of East Texas: Their lives ran in circles so small; they thought they'd seen it all, and they could not make a place for a girl who'd seen the ocean. Das Publikum wird langsam warm, denn es folgt fast das gesamte Short Sharp Shocked-Album (1988), mit dem berühmt-berüchtigten Coverbild, auf dem Michelle von Beamten des San Francisco Police Department weggezerrt wird. Nun weiss man, warum sie sich den Künstlernamen Shocked zugelegt hat.

Erst jetzt folgen Titel der aktuellen CD. Deep Natural ist auf dem eigenen Label erschienen, aufgrund der unerfreulichen Erfahrungen mit der Musikindustrie. CD Cover Deep NaturalDie letzte Plattenfirma, die sowohl bereits fertig gestellte Aufnahmen abgelehnt, als sie auch nicht aus dem Vertrag entlassen hat, hat Michelle verklagt - wegen Verletzung des 13. Zusatzes zur amerikanischen Verfassung, derjenige der die Sklaverei abschafft.

Musikalisch sind Michelles zutiefst natürliche Kreationen zwischen Folkfunk und Gospelmusik einzuordnen. Unerwartete christliche Texte sind Ausdruck ihrer kürzlich erfolgten Konversion. Sie singt, wie jemand gesagt hat, mit der Leidenschaft eines befreiten Sklaven: A burden shared is only half a trouble; joy that's shared is joy made double. Ihr Motto ist: The optimist says the glass is half full. The pessimist says the glass is half empty. But the important thing is: there is a glass.

Michelles anschließende Versuche auf der Fiddle sind nicht so überzeugend. Wir sind nun in der Abteilung Arkansas Traveler (1992) angelangt, Michelles eigenen Texten zu traditionellen Old-time-Melodien. Bei Strawberry Jam wird das Publikum auf die Bühne eingeladen. Musik und Politik hätten nämlich eines gemeinsam: They're too important to be left to professionals. Es findet sich auch ein Gitarrist, der tapfer die drei Akkorde mitklampft.

Der Publikumswunsch The Ballad of Patch Eye and Meg funktioniert nach 15 Jahren nicht mehr, dafür gibt es ein gespenstisches Who Cares?: Sssspooooky. Das Konzert endet dann mit einem weiteren Hit, Come A Long Way, und Leadbellys Goodnight Irene; als einzige Zugabe Joy, ein Gospel im Reggae-Rhythmus: Jealousy and anger, greed and hypocrisy; the seasons of human nature cannot take my joy from me.

Michelle hat sich als wahres Energiebündel erwiesen, offenbar verlebt sie gerade eine gute Zeit. Wie sagte schon Emma Goldman: If I can't dance, I don't want to be in your revolution.

Keep on rocking, Chel!

Links:

Michelle Shocked
Mighty Sound
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Konzertagentur B. Seliger
Forum Bielefeld

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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 12/2002.

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