FolkWorld Ausgabe 35 02/2008; Artikel aus Wikipedia, der freien Enzyklopädie

Jüdische Musik
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Zur Einstimmung auf den Länderschwerpunkt Israel beim TFF.Rudolstadt 2008: Jüdische Musik erstreckt sich über einen Zeitraum von rund 3.000 Jahren, von der biblischen Periode bis zur Gründung des Staates Israel in die Gegenwart. Der historische Faktor ist die Diaspora. Durch ihre Zerstreuung kamen die Juden in Kontakt mit einer Vielzahl regionaler musikalischer Stile, Praktiken und Ideen.

Jüdische Musik ist die Musik des jüdischen Volks und erstreckt sich über einen Zeitraum von rund 3000 Jahren, von der biblischen Periode über die Diaspora bis zur Gründung des Staates Israel in die Gegenwart. Sie umfasst sowohl religiöse als auch weltliche Musik. Dieser Artikel behandelt hauptsächlich die religiös geprägte Musik, weitere Angaben zu weltlicher jüdischer Musik finden sich unter Klezmer. Die Texte der religiösen jüdischen Musik sind zum größten Teil in hebräischer Sprache, in geringem Ausmaß auch in aramäisch verfasst (siehe dazu Kaddisch und Kol Nidre); diejenigen der weltlichen Musik hingegen meist in der jüdischen Umgangssprache (Ladino bzw. Jiddisch) oder auch in der Landessprache. - Der Aufbau dieses Artikels folgt im wesentlichen der Vorlage der Encyclopaedia Judaica[1].

Einführung

Curt Sachs hat in seiner Eröffnungsrede zum ersten internationalen Kongress jüdischer Musik in Paris 1957 die jüdische Musik wie folgt definiert: „Jüdische Musik ist diejenige Musik, die von Juden für Juden als Juden gemacht wurde“. [2]In einer solchen funktionalen Definition werden die Bereiche von Beschreibung, Analyse und daraus zu ziehenden Folgerungen offen gelassen.

Wie bei allen anderen Nationen und Kulturen wird auch die jüdische Musik durch ihren Ursprung bestimmt und durch geschichtliche Eigenarten modifiziert. Yidl Mitn Fidl Im Ursprung gelten dieselben Prinzipien, die bei allen Abkömmlingen der nahöstlichen Hochkulturen gewirkt haben. Die Musik selbst wird durch mündliche Überlieferung geschaffen, ausgeführt und weitergegeben. Die Praxis steht im Rahmen von religiösen und literarischen Überlieferungen, die ihrerseits schriftlich festgelegt sind.

Der historische Faktor der jüdischen Musik ist die Diaspora. Durch ihre Zerstreuung kamen die Juden in Kontakt mit einer Vielzahl regionaler musikalischer Stile, Praktiken und Ideen. Einige davon entsprachen eher ihrer eigenen Überlieferung (z. B. im Nahen Osten und rund ums Mittelmeer), andere unterschieden sich davon grundsätzlich (beispielsweise im Europa nördlich der Alpen und der Pyrenäen).

Die Frage der musikalischen Notation verdeutlicht die spezifisch jüdische Problematik. Einerseits entwickelte das Judentum niemals ein Notensystem im europäischen Sinne (ein Ton = ein Symbol). Auch das europäische Judentum übernahm das Notensystem der umgebenden Kultur nur in einigen Gemeinden während bestimmter Perioden, und nur für gewisse Bereiche der musikalischen Tätigkeit. Andererseits dienen die Teamim weltweit als Indikatoren für gewisse melodische Motive zur Festlegung der Kantillation der biblischen Texte. Der melodische Inhalt dieser Kantillation ist hingegen von Ort zu Ort verschieden und wird ausschließlich mündlich überliefert. Die syntaktischen und grammatischen Funktionen, welche ebenfalls durch die Teamim festgelegt werden, sind mindestens gleich alt wie die melodischen Traditionen und ihrerseits in schriftlich überlieferten Doktrinen (Halacha) und Diskussionen festgelegt.

Biblische Periode

Die Bibel ist die wichtigste und reichste Quelle für das Wissen über das musikalische Leben im alten Israel bis zur Rückkehr aus der Babylonischen Gefangenschaft. Sie wird durch mehrere Zusatzquellen ergänzt: archäologische Funde von Musikinstrumenten und von Abbildungen musikalischer Szenen, vergleichbares Material aus benachbarten Kulturen sowie nachbiblische Quellen wie die Schriften von Philo, Flavius Josephus, die Apokryphen und die Mischna. [3]

Nach der Rückkehr aus Babylon erhielt Musik als sakrale Kunst und als künstlerisch sakrale Handlung einen bedeutenden Platz in der Organisation des Tempeldienstes. Der Psalm 137 An den Flüssen Babylons beschreibt keine abstrakte Personifizierung, sondern levitische Sänger, die im Dienste ihrer Eroberer das Lob der assyrischen und babylonischen Könige singen mussten. So wurden Hof- und Tempelorchester in Mesopotamien zum Prototyp der Tempelmusik, die nach der Rückkehr der Juden in Jerusalem errichtet wurde.

Als die Bundeslade nach Jerusalem hinaufzog, tanzten David und das Volk mit aller Macht vor Jahwe her unter Gesängen. In der Bibelstelle werden Zithern, Harfen, Pauken, Schellen und Zimbeln (2 Sam 6,5-14) als Instrumente erwähnt. Schofar im jemenitischen Stil Und wenn eine festliche Prozession war, dann schritten die Sänger voran, hinter ihnen die Saitenspieler, inmitten paukenschlagender Jungfrauen (Ps 68,26). Zum zentralen Element des Gottesdienstes gehörte die Musik; in ihr fand die festliche Stimmung ihren fröhlichen Ausdruck. Nach und nach wurde im Tempel zu Jerusalem eine ständige Tempelmusik eingerichtet, die am Sabbat, Neumond, jüdischen Festen und beim täglichen Opfer ihren Dienst zu verrichten hatte (Ps 150,3-6).

An erster Stelle stand das Bläserkorps der Priester (2 Chron 5,12). Sie hatten mit der hellen silbernen Trompete den Anbruch der Feste von der Zinne des Tempels herab zu verkünden, Signale bei den einzelnen Festakten zu geben, alle Arten von Opfern mit Trompetenstößen zu begleiten, damit Gott seines Volkes gedenke (Num 10,2; 31,6). Mit der großen Posaune (Schofar), die einen dunkeln, starken Ton hatte, bliesen das Korps an Neujahr (Lev 23,24).

Weiter wird ein Sängerkorps und das Instrumentalkorps der niederen Kleriker erwähnt. Über sie berichtet uns der Chronist mit großer Liebe; er nennt sie gottbegeisterte Leute (1 Chr 25,1) Ihre Bedeutung wuchs immer mehr, so dass sie schließlich das Recht erhielten, das priesterliche Byssuskleid zu tragen (2 Cr. 5,12). Sie gliederten sich in drei Geschlechter mit den Namen Asaf, Heman und Etan und wurden für den Dienst in 24 Dienstklassen eingeteilt (1 Chron 15,19; 25). Sie hatten auf dem heiligen Platz ihre besondere Aufstellung auf einer Tribüne östlich vom Brandopferaltar. Prächtig war es, wenn sie mit Jubel, Danksagung und Gesang, mit Zimbeln, Harfen und Zithern ihren musikalischen Dienst verrichteten (Neh 12,27). Der Vorsänger stimmte an (Neh 11;17), der Chor nahm die Worte auf und respondierte. Besonders liebte man den Wechselgesang der Chöre; so ließ Nehemia beim Fest der Mauerweihe zwei große Sängerchöre zum Tempelberg hinaufziehen und am Haus Gottes sich aufstellen (Neh 12,27). Alle Sänger sangen einstimmig (2 Chron 5,13).

Liste der in der Bibel erwähnten Instrumente

[4]

Relief des Titusbogens mit 2 Hazozras
  1. Asor, siehe unten bei Newel.
  2. Halil, Blasinstrument mit zwei Pfeifen, wahrscheinlich einer Melodiepfeife und einer Brummpfeife. Das Instrumentenmundstück war wahrscheinlich wie bei der Klarinette mit einfachem Rohrblatt ausgestattet. Das Instrument wurde bei Freude- und Trauerzeremonien verwendet.
  3. Hazozra, Trompete, aus kostbarem Metall, normalerweise aus Silber hergestellt. Es wurde von Priestern bei Opfer- und Krönungszeremonien verwendet.
  4. Kaitros/Katros, siehe unten bei Danielische Instrumente.
  5. Keren, aramäisch Karna, siehe unten bei Schofar.
  6. Kinnor. Ein Saiteninstrument aus der Familie der Leiern. Der kanaanitische Typus des Instruments, der bestimmt auch von den Israeliten verwendet wurde, ist asymmetrisch. Das Instrument hatte wahrscheinlich eine Durchschnittshöhe von 50–60 cm und war von der Tonhöhe her im Altbereich angesiedelt, wie Funde aus Ägypten zeigen (wo die Form und auch der Name des Instruments von den benachbarten Semiten übernommen wurde). Kinnor wurde zum Hauptinstrument im Orchester des zweiten Tempels. Es wurde von König David gespielt und war deshalb bei den Leviten hoch angesehen. Laut Flavius Josephus hatte es zehn Saiten und wurde mit einem Plektrum gespielt.
  7. Maschrokita, siehe unten bei Danielische Instrumente.
  8. Mena'an'im, ein Rasselinstrument, das nur einmal bei der Beschreibung des Transports der Bundeslade nach Jerusalem erwähnt wird (2. Buch Samuel 6,5) und an anderer Stelle (1. Buch der Chronik 13,8) unter dem Namen Meziltajim (siehe unten) erscheint. Nach dem 7. vorchristlichen Jahrhundert verschwanden diese Rasseln und wurden durch die neu erfundene Metallglocke ersetzt (siehe unten Pa'amon).
  9. Meziltajim, Zilzalim, Mezillot. Die beiden ersten Formen stehen wahrscheinlich für Zimbeln. Die in Ausgrabungen gefunden Zimbeln waren plattenförmig und aus Bronze hergestellt, mit einem durchschnittlichen Durchmesser von 12 cm. Sie wurden von den Leviten im Tempeldienst verwendet. Mezillot werden in Secharja 14, 20 als Glöckchen erwähnt, die Pferden umgehängt werden. Sie entsprechen wahrscheinlich den Metallglöckchen, die auf assyrischen Reliefs zu sehen sind.
  10. Minnim, ein unklarer Begriff, wahrscheinlich ein Saiteninstrument.
  11. Newel, eine Art Leier, vielleicht ursprünglich aus Kleinasien, größer als der verwandte Kinnor und deshalb mit tieferem Ton. Laut Flavius Josephus hatte es 12 Saiten und wurde mit den Fingern gezupft. Es war das zweitwichtigste Instrument im Tempelorchester. Gemäß der Mischna bestanden die Saiten aus Schafdärmen. Newel asor, oder in der Kurzform Asor, war vermutlich eine kleinere Form von Newel mit nur zehn Saiten.
  12. Pa'amon werden in Exodus und bei Flavius Josephus erwähnt. Sie gehörten zur Bekleidung des Hohepriesters, die Bedeutung ist Glocke. Die in Palästina gefunden Glocken sind klein, bestehen aus Bronze und haben einen eisernen Klöppel.
  13. Psanterin und Sabchal, siehe unten bei Danielische Instrumente.
  14. Schalischim, nur im 1. Buch Samuel 18, 6-7, als Instrument erwähnt, das von Frauen gespielt wird. In Analogie mit einem ugaritischen Wort für Metall könnte es sich um Zimbeln handeln.
  15. Schofar, siehe dort.
  16. Sumponia, siehe unten bei Danielische Instrumente.
  17. Tof, ein rundes Tamburin, wird mit Tanz in Verbindung gebracht und oftmals von Frauen gespielt.
  18. Ugaw, immer noch unklar, wahrscheinlich aber kein Blasinstrument gemäß mittelalterlicher Exegese. Vielleicht handelt es sich um die Harfe, die wie die Laute (Minnim?) niemals zum kanaanitischen und israelitischen Instrumentarium gehörte.
  19. Danielische Instrumente. Buch Daniel 3, 5 beschreibt auf aramäisch ein Orchester am Hofe des babylonischen Königs. Es enthält folgende Instrumente: Karna, Maschrokita, Kaitros, Sabbcha, Psanterin, Sumponia sowie allerlei Arten von Instrumenten. Karna ist ein Horn, und Kaitros, Sabbcha und Psanterin sind aramaisierte Formen der griechischen Wörter Kithara, Sambyke und Psalterion (für die beiden letzteren siehe Harfe). Maschrokita ist ein Pfeifinstrument, und Sumponia entspricht dem griechischen Begriff Symphonie, wörtlich „Zusammenklang“. Sehr wahrscheinlich bedeutet dieser Ausdruck gar kein Musikinstrument, sondern beschreibt das Zusammenklingen der vorher erwähnten Instrumente, was durch den Zusatz allerlei Arten von Instrumenten noch verstärkt würde. [5]

Die Entstehung des synagogalen Gesangs

Die Zerstörung des Tempels zu Jerusalem im Jahre 70 erforderte eine vollständige Neuausrichtung im religiösen, liturgischen und geistigen Bereich. Die Abschaffung des Tempeldienstes bedeutete ein abruptes Ende der durch Leviten ausgeführten Instrumentalmusik. Das Verbot des Gebrauchs von Instrumenten in der Synagoge hat sich mit wenigen Ausnahmen bis in die heutige Zeit erhalten. Da die musikalischen Traditionen der Leviten und ihre beruflichen Regeln ausschließlich mündlich überliefert wurden, sind davon keine Spuren erhalten geblieben. Der synagogale Gesang war demnach ein Neubeginn in jeglicher Beziehung – vor allem auch hinsichtlich der geistigen Grundlage. Das Gebet übernahm von nun an die Rolle des Opferdienstes, um Vergebung und Gnade Gottes zu erlangen. Es musste in der Lage sein, einen weiten Bereich menschlicher Gefühle auszudrücken: Freude, Dankbarkeit und Lob sowie Flehen, Sündenbewusstsein und Zerknirschung.

In den ersten nachchristlichen Jahrhunderten herrschte in den verschiedenen jüdischen Gemeinden im Nahen Osten eine große stilistische Einheit bei der Rezitation der Psalmen und weiterer biblischer Bücher. Derselbe Rezitationsstil findet sich auch in den ältesten Traditionen der katholischen, orthodoxen und syrischen Kirchen. Da ein enger Kontakt zwischen den christlichen Glaubensrichtungen nur zu einem sehr frühen Zeitpunkt bestand, müssen die gesanglichen Strukturen vom Christentum zusammen mit den Heiligen Schriften selbst übernommen worden sein.

Der Pentateuch und Ausschnitte aus den Propheten werden im synagogalen Gottesdienst regelmäßig vorgetragen, während die anderen biblischen Bücher für gewisse Festtage vorbehalten sind. Es ist für die Synagoge charakteristisch, dass der biblische Text niemals vorgelesen bzw. deklamiert wird, sondern stets mit musikalischen Akzenten (Teamim) und Kadenzen versehen wird. Der Kirchenvater Hieronymus bezeugt diese Praxis um das Jahr 400 mit den Worten: decantant divina mandata: „sie (die Juden) singen die göttlichen Gebote“ [6].

In der talmudischen Zeit wurden die musikalischen Akzente ausschließlich mündlich überliefert, und zwar durch die Praxis der Chironomie: Hand- und Fingerbewegungen zum Anzeigen der verschiedenen Kadenzen. Die Chironomie war schon von Sängern im alten Ägypten ausgeübt worden und wurde später auch von den Byzantinern übernommen. Bis vor kurzem wurde diese Überlieferung in Italien und Jemen gepflegt. In der zweiten Hälfte des ersten christlichen Jahrtausends wurden von den Masoreten nach und nach schriftliche Akzente eingeführt. Einige Gemeinden, vor allem jemenitischer und bucharischer Herkunft, verzichten bis heute auf schriftliche Anweisungen zum Vortrag des Bibeltextes und tragen die Bibel in einer sehr einfachen Weise vor, indem sie ausschließlich psalmodische Kadenzen verwenden. Die Beschränkung des biblischen Vorsingens auf einen kleinen Notenbereich und beschränkte Verzierungen ist beabsichtigt und dient der verschärften Wahrnehmung des Wortes. Curt Sachs nennt diese Art von Musik logogenisch: sie entsteht aus dem Wort und dient dem Wort. [7]

Teamim und Neumen

Am Rande einiger Schriftrollen vom Toten Meer (Jesaja-Manuskript und Kommentar zu Habakuk) stehen unübliche Zeichen, die von den Teamim im masoretischen Text abweichen. In römischen, syrischen und armenischen Neumen finden sich dazu keine Parallelen, wohl aber in gewissen „paläo-byzantinischen“ Neumen, die in frühen byzantinischen und altkirchenslawischen Manuskripten gefunden wurden. Diese Neumen gehören zur Kontakia-Notation, die im 5. bis 7. Jahrhundert zur Niederschrift des byzantinischen Hymnentypus Kontakion (Mehrzahl Kontakia) verwendet wurde (siehe dazu Romanos Melodos). Der Einfluss syrischer und hebräischer Poesie auf die Kontakia ist bekannt. Die Neumennotation selbst wurde noch im 9. und 10. Jahrhundert in Byzanz verwendet, und ihre ursprünglichen Formen sind auch in den ältesten kirchenslawischen Manuskripten zu finden. [8]

Musik in der mittelalterlichen Diaspora

Der Beginn einer neuen Periode in der jüdischen Musik kann um die Mitte des 10. Jahrhunderts angesetzt werden. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Akzentsystem des biblischen Textes abgeschlossen. Musik wurde zu einem Thema der philosophischen Betrachtung, und die Poesie erhielt durch die Einführung des musikalischen Metrums und der damit verbundenen ästhetischen Werte einen neuen Charakter. Gleichzeitig ereigneten sich wichtige politische Änderungen. Süßkind von Trimberg, Codex Manesse, 14. Jhd. Die Eroberung und Einigung der nahöstlichen Länder durch den Islam führte die lokalen jüdischen Gemeinden in eine Welt der relativen Freiheit und Offenheit. Die Juden hatten die Möglichkeit, sich in die allgemein herrschende Kultur zu integrieren, mussten aber dafür ihre administrative Autonomie aufgeben. Die religiöse Herrschaft der babylonischen Akademien kam zu einem Ende, und die zerstreuten jüdischen Gemeinden mussten ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen.

Der Begriff des Chasan geht auf die Zeit des Römischen Reiches zurück und bezeichnete zunächst den Vertreter des Archisynagogos, d. h. des Leiters einer jüdischen Gemeinde. Dies war eine ehrenvolle Funktion: im Codex Theodosianus von 438 wurden seine Inhaber von Steuern befreit, und Papst Gregor der Große bestätigte diese Bestimmung im Jahre 600. Im rein musikalischen Bereich, im Sinne eines Vorbeters, wird „Chasan“ etwa seit dem 9. Jahrhundert verwendet. Die Funktion des Vorbeters im jüdischen Gottesdienst wurde vom Vater auf den Sohn übertragen. Zu dieser Zeit musste ein Chasan auch in der Lage sein, Pijjutim, d. h. Hymnen, zu schreiben und zu vertonen. Die enge Verbindung zwischen Chasanut, d. h. der Kunst des Vorbetens, und Pijjutim erscheint in einigen Briefen, die sich aus der Genisa in Kairo erhalten haben [9]. Da die Gemeinden im mittelalterlichen Ägypten stets neue Hymnen zu hören wünschten, führte dies dazu, dass die Vorbeter ihre Pijjutim untereinander austauschten, sie insgeheim von Kollegen abschrieben und darüber eine internationale Korrespondenz führten, die bis Marseille reichte.

Der Begriff musika taucht erst im 10. Jahrhundert im hebräischen Sprachgebrauch auf, und zwar in der arabisierten Form mūsīkī. Er bezeichnete das Konzept der Wissenschaft der Musik bzw. der Musiktheorie. Dieser Wissenschaftszweig gilt als der vierte im klassischen Quadrivium. Er wird von Dunasch ibn Tamim (890–ca. 956), einem jüdischen Sprachwissenschaftler und Astronomen aus Kairouan, als „die vorzüglichste und letzte der propädeutischen Disziplinen“ bezeichnet. [10]

In der Mitte des 10. Jahrhunderts führte Dunasch ben Labrat, ein Schüler von Saadia Gaon, das musikalische Metrum in die hebräische Poesie ein. Die arabischen Dichter hatten die Metrik der alten Griechen, die auf zeitlich festgelegten Silbenlängen beruht, schon im 8. Jahrhundert übernommen, doch im Unterschied zum Arabischen kennt die hebräische Sprache keinen Unterschied zwischen kurzen und langen Vokalen. Die Sänger mussten demnach zwischen den verschiedenen Wortakzenten eine gewisse Anzahl Silben einfügen.

Schon zu Zeiten des Römischen Reiches hatten sich Juden den Spielleuten (ludarii) angeschlossen, denen Musiker jeglicher Herkunft beitreten konnten. Da die Gaukler und Vaganten in jedem Fall eine soziale Randgruppe darstellten, war ihre jüdische Herkunft kein Hindernis, um bei einem islamischen Kalifen oder Emir, einem christlichen König, Bischof oder Ritter als Hofmusiker zu dienen. Diese jüdischen Musiker schrieben ihre Lieder in der Landessprache. Süßkind von Trimberg, ein Spruchdichter aus dem 13. Jahrhundert, hielt sich wahrscheinlich am Hofe des Bischofs von Würzburg auf.

Wanderungen und Mischung musikalischer Stile (um 1500–1800)

Sephardische Juden im Orient und Okzident

Eugene Delacroix, Jüdische Hochzeit in Marokko, 1837-41

1492 wurden die Sephardim aus Spanien vertrieben, sechs Jahre später aus Portugal. Viele von ihnen emigrierten in den Herrschaftsbereich des Ottomanischen Reiches. Safed wurde zu einem Zentrum der mystischen Bewegung (Kabbala) unter der geistigen Führung von Isaak Luria. Mit dem Hymnus Lecha dodi („Geh, mein Freund, der Braut entgegen“), der von sechs einleitenden Psalmen – entsprechend den sechs Werktagen – und zwei abschließenden Psalmen umrahmt wird, legten die Kabbalisten in Safed den Ritus des Freitagabendgottesdienstes (Kabbalat Schabbat) fest, an welchem bis heute in jüdischen Gemeinden weltweit festgehalten wird.

Zwar hielten die sephardischen Juden auch nach ihrer Vertreibung an ihrer Sprache, dem Ladino, einer nur leicht abgewandelten Variante des Kastilischen, fest, nahmen jedoch zahlreiche Einflüsse der orientalischen Musik, besonders der türkischen Musik auf. Israel Najara (1555–1625), ein jüdischer Dichter aus Damaskus, scheint der erste gewesen zu sein, welcher hebräische Gedichte nach dem Makam-System vertonte. Ein Makam (türk.) bzw. Maqam (arab.) entspricht ungefähr dem westlichen Modus und ist ein System von Tonleitern sowie damit verbundenen Kompositions- und Improvisationsregeln, wobei jedem Makam ein bestimmter Charakterzug zugeordnet wird. In der sephardischen Überlieferung entwickelten sich besondere maqamat: ein feierlicher Maqam für Toravorlesungen, ein fröhlicher für Simchat Tora und Hochzeiten, ein trauriger für Beerdigungen und Tischa beAv sowie ein besonderer für Beschneidungen, zum Ausdruck kindlicher Zuneigung. Die jüdische Gemeinde von Aleppo war diejenige, welche die Regeln des Makam-Systems am genauesten beobachtete. Nach dem Tod von I. Najara verstärkte sich der Beitrag der jüdischen Musiker auch im Bereich der Volksmusik: der türkische Reisende Evliya Tschelebi beschreibt eine Parade der Zünfte im Jahre 1638, als 300 jüdische Musiker sowie weitere jüdische Tänzer, Jongleure und Clowns an Sultan Murad IV. vorbeidefilierten. [11]

Sephardische Juden siedelten sich auch im christlichen Europa an, darunter im Comtat Venaissin und Bayonne, in Livorno, Rom, Amsterdam und London. Ein wichtiges Zentrum der jüdischen Musik im 18. Jahrhundert war Amsterdam. Der spanische Schriftsteller Danel Levi Barrios (1635–1701), der ab 1674 in Amsterdam lebte, beschreibt neu zugezogene, ausgezeichnete Sänger, Harfen-, Flöten- und Vihuelaspieler, welche als Marranos nach ihrer Flucht von der iberischen Halbinsel in der portugiesischen Gemeinde aufgenommen wurden. Hier wurden in dieser Zeit Purimspiele sowie Kantaten für Simchat Tora und weitere festliche Anlässe geschrieben. Als Komponist namentlich bekannt ist Abraham Caceres, der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts lebte und von dem unter anderem die dreistimmige Vertonung eines Chorals überliefert ist, dessen Worte von Rabbiner Isaac Aboab zur Einweihung der Amsterdamer Synagoge 1675 geschrieben worden waren. [12]

Humanismus und Renaissance

Die Humanisten des 16. Jahrhunderts wandten sich von den mittelalterlichen Dogmen ab und suchten stattdessen den direkten Kontakt mit den antiken Klassikern in der Originalsprache. Dazu gehörte auch die Beschäftigung mit der Bibel und späteren Werken der hebräischen Literatur. Mehrere christliche Gelehrte wurden zu Hebraisten, die sich eingehend mit der hebräischen Sprache und Grammatik befassten. Johannes Reuchlin, Sebastian Münster und Johann Böschenstein schrieben Abhandlungen über die hebräischen Akzente und die Rechtschreibung.

Vor allem in den Stadtstaaten der Toskana und Oberitaliens wurde auch die jüdische Bevölkerung vom Geist der Renaissance erfasst. Der Arzt und Rabbiner Abraham ben David Portaleone (1542–1612) aus Mantua verfasste das Buch Shilte ha-Gibborim („Schilde der Mächtigen“), das 1612 in Venedig im Druck erschien. Ausgehend von einer Beschreibung des Tempeldienstes berührt das Buch eine Vielzahl der damals bekannten Wissenschaften, wie zum Beispiel Architektur und Aufbau der sozialen Ordnung. Das Kapitel über den Gesang der Leviten und die verwendeten Musikinstrumente gerät zu einer musikalischen Abhandlung; das Buch wurde nach seiner lateinischen Übersetzung 1767 von vielen christlichen Schriftstellern als Quelle verwendet. [13]

In zahlreichen norditalienischen Städten, vor allem aber am Hofe der Gonzaga in Mantua blühte ein reges musikalisches Leben, an dem jüdische Künstler bedeutenden Anteil hatten. Am wichtigsten unter ihnen ist Salomone Rossi (1550–1630), der als einer der ersten Sonaten für Melodieinstrumente und Basso continuo geschrieben hat. Ein einzigartiges Werk von Rossi ist die drei- bis achtstimmige Vertonung der Lieder Salomos, in denen chorale Psalmodie mit der Mehrchörigkeit von Andrea und Giovanni Gabrieli kombiniert wird. Diese Kompositionen waren für besondere Sabbat- und Festtage gedacht und nicht dazu vorgesehen, den traditionellen Synagogengesang zu ersetzen. Die Integration der italienischen Juden in die europäische Kunstmusik kam infolge der Belagerung von Mantua durch habsburgische Truppen und der Pestepidemie im Jahre 1630 zu einem jähen Ende. [14]

19. Jahrhundert: Reformbewegung und chassidischer Nigun

Voraussetzungen

Der Prozess der Verwestlichung der aschkenasischen Musik begann und entwickelte sich zunächst am Rande der jüdischen Gesellschaft. Klezmerim waren ursprünglich professionelle Wandermusiker, die Laute spielten oder als Streichtrio auftraten, meistens mit zwei Violinen und einer Gambe. In größeren Städten traten sie zu Ehren ihrer christlichen Herrscher bei feierlichen Prozessionen auf: in Prag 1678, 1716 und 1741, und in Frankfurt am Main ebenfalls 1716. Da diese festlichen Anlässe aber sehr selten waren, waren die jüdischen Musikanten auf behördliche Privilegien angewiesen, um auch an Sonn- und Feiertagen auf Wunsch von christlichen Persönlichkeiten auftreten zu können.

Seit dem 17. Jahrhundert war es in wohlhabenden jüdischen Kreisen in Westeuropa üblich geworden, die Kinder, vor allem die Töchter, in Gesang und Instrumentalmusik zu unterrichten. Glückel von Hameln berichtet in ihren Memoiren, dass ihre Schwester eine gute Cembalospielerin war. Im Laufe des späten 18. Jahrhunderts verstärkte sich diese Tendenz, und Rahel Varnhagen schrieb, ihre musikalische Erziehung habe aus nichts anderem als aus der Musik von Sebastian Bach und der ganzen damaligen Schule bestanden. Peira von Geldern, die Mutter von Heinrich Heine, musste ihre Flöte vor ihrem strenggläubigen Vater verstecken. Sara Levi, Tochter der Berliner Finanzmanns Daniel Itzig (1723–1799), der 1791 als erster preußischer Jude von Friedrich Wilhelm II. das Naturalisationspatent erhielt, war die letzte und treuste Schülerin von Wilhelm Friedemann Bach und bewahrte viele seiner Autographen für die Nachwelt. [15]

Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren die Lebensbedingungen in den Ghettos und überfüllten jüdischen Ansiedlungen Europas fast unerträglich geworden. Die zahlreichen Verfolgungen, welche den wirtschaftlichen, moralischen und physischen Ruin des Judentums bezweckten, hätten fast ihr Ziel erreicht, wären sie nicht durch den Glauben an eine abschließende Erlösung und durch ungebrochenes Selbstvertrauen aufgewogen worden. Aus dem zunehmenden Druck befreite sich das europäische Judentum auf zwei gegensätzlichen Wegen: Moses Mendelssohn, Freund Lessings und Begründer der jüdischen Aufklärung, förderte die Idee der Assimilation, verbunden mit dem Wunsch nach Emanzipation. Auf der anderen Seite konzentrierte sich der Chassidismus des Baal Schem Tow und seiner Nachfolger auf die Entwicklung innerer Werte und war mit einem gewissen geistigen Eskapismus verbunden.

Zur Entwicklung der chassidischen Melodik

Das osteuropäische Judentum, unter dem Druck zunehmender Verarmung und der ständigen Bedrohung durch Ausrottung seit den Pogromen unter der Führung des Hetmans Bogdan Chmielnicki, verlor nach dem Scheitern der messianischen Erwartungen, die von Shabbetaj Zvi geweckt worden waren, die Hoffnung auf baldige Erlösung. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstand die chassidische Bewegung und verkündete die Idee, dass mittels geistiger Werte die Seele sich aus dem Körper befreien und somit an einer höheren Existenz teilnehmen könne. In der mystischen Tradition von Safed galt ein fröhliches Herz als wichtigste Voraussetzung für das Gebet, und Singen wurde zu einer zentralen religiösen Erfahrung. Zum ersten Mal wird Musik aus dem Bereich der jüdischen Mystik bekannt; sie ist bis heute zu hören. Der chassidische Gesang ist sehr gefühlsbetont, legt dagegen weniger Wert auf die Bedeutung des Wortes. Viele Melodien beschränken sich auf ein einziges Wort oder auch nur auf einige – sinnlose – Silben, wie ja-ba-bam, ra-la-la usw. Sinn dieses Silbengesangs ist es, sich Gott in einer Weise zu nähern, die eher einem kindlichen „Stammeln“ entspricht als einer vernunftbetonten Ausdrucksweise in Worten. [16]

Diese Art des Singens verband sich mit uralten mystischen Übungen wie Konzentration, Fasten, Kawwana und rhythmischen Bewegungen des Körpers. Nach dem Tod des Baal Schem Tow versammelten sich einige seiner Schüler im Stetl Mezhirichi, wo während Sabbatversammlungen der chassidische Niggun (Melodie) entwickelt wurde. Zu den wichtigsten Förderern dieser Melodik gehörte Rabbi Schneur Salman aus Liadi, der Begründer der Chabad-Bewegung. Von ihm ist der Ausspruch überliefert: „Drei Dinge habe ich in Mezhirichi gelernt: was Gott ist, was Juden sind und was ein Nigun ist.“

Die Anhänger des Chabad-Chassidismus widmeten der Verbindung zwischen Musik und Ekstase ihre Aufmerksamkeit. Rabbi Dov Bär aus Lubawitsch (1773–1827) beschrieb drei Arten von Melodien: 1) Melodien unter Begleitung von Wörtern, welche die Fähigkeit des „Verstehens“ fördern; 2) wortlose Melodien, welche die psycho-physische Natur jedes Menschen ausdrücken können; 3) der ungesungene Gesang, die eigentliche Essenz der Musik, die nicht in einer Melodie, sondern in der geistigen Konzentration auf das Göttliche zum Ausdruck kommt.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts waren unter den Anhängern eines Admor bzw. Zaddik oftmals ständige Instrumentalgruppen, Sänger und Verfasser von Nigunim zu finden, und es entwickelten sich verschiedene Unterkategorien von Nigun-Stilen. Einige dieser Melodien sind stark von slawischer Volksmusik beeinflusst, gehen aber alle auf eine bestimmte Form von Shteyger zurück.

Der jiddische Ausdruck Shteyger ist die aschkenasische Parallele zum sephardischen Maqam (siehe oben). Er wird im aschkenasischen Judentum seit dem Mittelalter verwendet, bezeichnet eine gewisse Art der Tonraumgestaltung und entspricht ungefähr dem kirchentonartlichen Modus. Im Unterschied zu den Kirchentonarten muss die Tonleiter jedoch nicht unbedingt eine Oktave umfassen, die Intervalle können sich je nach aufsteigender oder absteigender Tonfolge ändern. Gewisse Hauptnoten dienen als Haltepunkte für die mittleren und abschließenden Kadenzen. Die meisten Shteyger sind nach Anfangsworten von Gebeten aus dem Siddur benannt und zeichnen sich durch spezifische Motivik aus.

Die zwei wichtigsten Shteyger, sowohl in der westlichen als auch der östlichen aschkenasischen Überlieferung, sind Ahavah Rabbah, ein Abschnitt aus dem Morgengebet Schacharit, und Adonai malach, mit dem viele Psalmen eingeleitet werden. In einer Transkription von Abraham Beer Birnbaum aus dem Jahre 1912 lautet die Tonleiter von Ahavah Rabbah wie folgt, mit dem eingestrichenen g' als Hauptnote: Jüdische Musik, Ahavah Rabbah Scale

Siehe dazu Spanische und jüdische Tonleiter.


Moritz Deutsch hat 1871 in seiner „Vorbeterschule“ die Tonleiter von Adonai Malach wie folgt notiert, mit dem eingestrichenen c' als Hauptnote: Jüdische Musik, Adonai Malach Scale

Ein weiterer Shteyger heißt Mi Sheberach.

Reformbewegung und jüdische Kunstmusik

In Westeuropa wurde die Erneuerung des Synagogengesangs durch Napoleon eingeleitet. Zur Zentralisierung und Förderung der sozialen Integration der französischen Juden wurde 1808 in jedem Département mit einer jüdischen Bevölkerung von über 2000 Personen ein Consistoire gegründet, unter der Leitung eines Grand rabbin (Oberrabbiner), dessen Wahl von den staatlichen Behörden bestätigt werden musste. Diese Reformen erstreckten sich auch auf einige Gebiete, die von französischen Truppen besetzt waren, wie zum Beispiel das Königreich Westfalen. Israel Jacobson, Hoffaktor von Jérôme Bonaparte, gründete in Seesen und Kassel Reformsynagogen, in denen Choralmelodien zu Orgelbegleitung gesungen wurden. Nach dem Sturz von Napoleon zog Jacobson nach Berlin, wo er seine Reformbemühungen fortsetzte. In seinem eigenen Haus eröffnete er 1815 einen Gebetsraum und zog zwei Jahre später in die private Synagoge von Jakob Herz Beer, dem Vater von Giacomo Meyerbeer, um. Doch die preußische Regierung, welche von orthodoxen Juden des öfteren Beschwerden erhielt, untersagte 1818 die Weiterführung der Gottesdienste. Bald breitete sich die Reformbewegung auf weitere Gemeinden aus. Der ungarische Rabbiner Aaron Chorin veröffentlichte 1818 ein Buch zur Verteidigung der Orgel in der Synagoge. In Frankfurt (1816), Hamburg (1817) und während der Leipziger Messe (1820) entstanden Reformsynagogen. Die Synagoge in Hamburg wurde auch von sephardischen Gemeindemitgliedern aufgesucht und existierte bis 1938. Hier wurde die melodische Rezitation der Gebete und der Bibeltexte als unzeitgemäß angesehen und durch einfaches Vorlesen ersetzt. Daneben hielt in Reformsynagogen die deutsche Sprache zunehmend Einzug: Neben Predigten wurden nun auch zahlreiche Gebete anstatt wie bisher auf hebräisch auf deutsch vorgetragen. Nach der Märzrevolution 1848 wurden auch in konservativeren Synagogen Orgeln eingebaut. Gemäß einer Zählung von 1933 verfügten damals 74 jüdische Gemeinden in Deutschland über eine Orgel. [18]

Im 19. Jahrhundert begannen sich die westeuropäischen Kantoren beruflich zu organisieren, und es wurden verschiedene Fachzeitschriften publiziert: Der jüdische Cantor, herausgegeben von Abraham Blaustein (1836–1914), Oberkantor in Bromberg, bestand von 1879–1898; die Österreichisch-Ungarische Cantorenzeitung, gegründet von Jakob Bauer (1852–1926), Chasan am Türkischen Tempel in Wien, wurde von 1881–1902 herausgegeben. Trotz zahlreicher Aktivitäten rund um den Synagogengesang sank die Attraktivität des Kantorenberufs in Westeuropa. Diese Lücke wurde durch Immigranten aus Osteuropa gefüllt, insbesondere nach den Pogromen im Russischen Reich nach dem Attentat auf Zar Alexander II. 1881.

Im Laufe des 19. Jahrhunderts integrierten sich jüdische Musiker zunehmend in der Produktion und Reproduktion der allgemein vorherrschenden Kunstmusik, wurden aber von der Gesellschaft stets als Außenseiter angesehen. Heinrich Heine, der in seinem dritten Brief aus Berlin vom 7. Juni 1822 und den Briefen „Über die französische Bühne“ aus dem Jahr 1837 Felix Mendelssohn noch als den „legitimen Thronfolger Mozarts“ bezeichnet hatte, spricht in seinem Bericht aus Paris über die „Musikalische Saison von 1844“ vom „feinen Eidechsenohr“ und der „passionierten Indifferenz“ des Komponisten. Eindeutig antisemitische Positionen bezieht dann Richard Wagner in seiner Schrift Das Judenthum in der Musik. [19]

20. Jahrhundert: Zunehmende Verfolgung und nationale Wiedergeburt

Nachdem im 19. Jahrhundert Kantoren damit begonnen hatten, die mündliche Tradition des Synagogengesangs zu notieren und zu sammeln, wurde diese Aufgabe zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter wissenschaftlichen Aspekten weitergeführt Ruth Rubin, Voices of a People und auf die Musik der orientalischen Juden ausgeweitet. Dies ist hauptsächlich das Verdienst des Musikwissenschaftlers Abraham Zvi Idelsohn (1882–1938), der in Russland als Kantor ausgebildet worden war, in den Westen emigrierte und ein Studium an führenden deutschen Konservatorien und der Leipziger Schule für Musikwissenschaft absolvierte. Unter dem Patronat der

Weblinks

Literatur

  • H. Avenary, in MGG, Band 7 (1958), S. 226-261.
  • E. Werner, in Grove Dictionary of Music and Musicians, Band 4 (5. Ausgabe 1954). S. 615-636.
  • Abraham Zvi Idelsohn: Phonographierte Gesänge und Aussprachen des Hebräischen der jemenitischen, persischen und syrischen Juden. Kais. Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch – historische Klasse, Sitzungsberichte, 175. Band, 4. Abhandlung, 1922.
  • Abraham Zvi Idelsohn: Jewish Music – Its Historical Development. Henry Holt and Company/Dover Publications, New York 1929/1992, ISBN 0-486-27147-1.
  • Darius Milhaud, in Musica Hebraica 1-2, Jerusalem 1938.
  • Eckhard John, Heidy Zimmermann (Hrsg.): Jüdische Musik. Fremdbilder – Eigenbilder. Böhlau Verlag, Köln 2004, ISBN 3412168033.
  • Paul Volz: Die biblischen Altertümer, Komet Verlag Köln 1914, ISBN 3-89836-316-3

CDs

  • Anthologie ostjüdischer Musik. 3 CDs, Vol. 1: Religiöse Gesänge, Vol. 2/3: Jiddische Volks- und Theaterlieder. Musikverlag Pan AG, Zürich 1997.
  • Musique judéo-baroque. Louis Saladin, Carlo Grossi, Salamone de Rossi Ebreo. Harmonia mundi, Arles 1988.
  • Forbidden, not forgotten – Suppressed music from 1938-1945. 3 CDs, Vol. 1: Gideon Klein (1919–1945), Viktor Ullmann (1898–1944); Vol. 2: Pacel Haas (1899–1944), Hans Krása (1889–1944); Vol. 3: Karl Amadeus Hartmann (1905–1963), Acum, 1996.
Wiener Akademie nahm Idelsohn von 1906 bis 1921 Gesänge orientalischer Juden in Jerusalem auf Schallplatten auf und transkribierte sie. Diese Transkriptionen füllen fünf Bände seines zehnbändigen Hauptwerks Hebräisch-orientalischer Melodienschatz. Idelsohn definierte jüdische Musik als von Juden für Juden geschaffene Musik, worauf Curt Sachs (siehe Einleitung) später zurückgegriffen hat. Idelsohn war auch als Komponist tätig und hat eine chassidische Melodie zum berühmten Volkslied Hava Nagila verarbeitet und mit Worten versehen.

Die Wiederbelebung nationaler Werte in der jüdischen Musik ging von Russland aus, wo Rimski-Korsakow Velvel Pasternak, Beyong Hava Nagila seine jüdischen Studenten 1902 in St. Petersburg aufforderte, ihre wunderbare Musik zu pflegen. Von 1908 bis 1918 bestand die „Petrograder Gesellschaft für jüdische Volksmusik“, die jedoch außerhalb eines interessierten jüdischen Publikums nur wenig Anklang fand. Größere Breitenwirkung hatte die Gründung von jüdischen Theatern nach der Oktoberrevolution, darunter auch Habima, das heutige israelische Nationaltheater, das 1917 in Moskau errichtet wurde. In der Sowjetunion gab es jedoch aus politischen Gründen bald keinen Platz mehr für spezifisch jüdische Kunst, so dass deren Vertreter in den Westen emigrierten. Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin zu Beginn der Zwanzigerjahre zogen die meisten weiter in die USA und nach Palästina. Einige hingegen, wie Michail Gnessin, blieben in der Sowjetunion und wurden dort zu nützlichen Mitgliedern des musikalischen Establishments. [20]

Die Betonung der nationalen Werte in der jüdischen Musik führte zu zwei gegensätzlichen Entwicklungen. Von Osteuropa aus entwickelte sich im Rahmen des Giora Feidman zionistischen Aufbaus einer jüdischen nationalen Heimstätte in Palästina die jüdische Volksmusik; der Volkstanz wurde neu belebt und ständig weiterentwickelt (siehe dazu Hora und dessen orientalische Entsprechung Debka). Andererseits gab es jüdische Komponisten, die von deutschen musikalischen Traditionen geprägt waren und auch dann noch, als sie in der Zeit des Nationalsozialismus verfemt und aus Deutschland verjagt wurden, diese Traditionen zusammen mit dem jüdischen Erbe weiter pflegten. Beispiele dafür sind Arnold Schönberg, einer der Begründer der Zwölftonmusik, dessen unvollendet gebliebene Oper Moses und Aron mehrere Jahre nach seinem Tod uraufgeführt wurde, sowie Kurt Weill, der bis zum Jahre 1933 in Berlin ein gefeierter Opernkomponist war und 1934 und 1935, zu Beginn seiner Exilzeit, die Operette Der Kuhhandel sowie das biblische Drama Der Weg der Verheißung schrieb. Diese beiden Werke wurden in einer englischen Fassung uraufgeführt – A Kingdom For a Cow als Musical Play in London, The Eternal Road in New York unter der Regie von Max Reinhardt.

Zur Musik im Holocaust siehe Mädchenorchester von Auschwitz und Männerorchester von Auschwitz.

Seit den 1970er Jahren ist die Klezmermusik vor allem durch den Klarinettisten Giora Feidman neu belebt worden.

Quelle

  1. EJ, a.a.O., S. 554-555
  2. EJ, a.a.O., S. 555
  3. EJ, a.a.O., S. 559
  4. EJ, a.a.O., S. 563-565
  5. EJ, a.a.O., S. 563
  6. Jacques Paul Migne: Patrologia Latina, 1844–1864. Band 24, S. 561.
  7. EJ, a.a.O., S. 578
  8. Link "Chironomy in the Ancient World"
  9. Shlomo Dov Goitein, Chava Alberstein Sidre Chinuch, Jerusalem 1962, S. 97–102.
  10. EJ, a.a.O., S. 590
  11. EJ, a.a.O., S. 624
  12. EJ, a.a.O., S. 625
  13. EJ, a.a.O., S. 616
  14. EJ, a.a.O., S. 619
  15. EJ, a.a.O., S. 633
  16. EJ, a.a.O., S. 637
  17. EJ, a.a.O., S. 609-610
  18. EJ, a.a.O., S. 650
  19. EJ, a.a.O., S. 655
  20. EJ, a.a.O., S. 659-660

Musik in Israel

Der Aufbau eines organischen Musiklebens begann in Palästina in den Dreißigerjahren mit der Einwanderung zahlreicher Juden aus Mitteleuropa. 1936 gründete der polnische Geiger Bronisław Huberman das Palestine Orchestra, das nach der Unabhängigkeitserklärung des Staates Israel zu Israel Philharmonic Orchestra umbenannt wurde. Zu den bedeutendsten israelischen Komponisten dieser Zeit gehört Paul Ben-Haim (1897–1984), der ab 1933 in Tel Aviv lebte (siehe dazu auch Liste israelischer Komponisten klassischer Musik). Die wichtigsten Konzertsäle in Israel sind das „Mann-Auditorium“ in Tel Aviv (hebr. Hechal hatarbut („Kulturpalast“, 1957 eröffnet), und Binyene ha-Umma in Jerusalem (1959 eröffnet). Jährliche Musikfestivals gibt es im Kibbuz Ein Gev am Ufer des See Genezareth sowie Freilichtaufführungen im römischen Theater von Caesarea.

Israel verfügt seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts über eine vielfältige Rock-, Pop- und Chansonszene (siehe dazu auch Israelische Kultur). Berühmte Vertreter der ersten Generation sind Arik Einstein und die Gruppe Kaveret. Yossi Banai hat Chansons von Jacques Brel und Georges Brassens aufgeführt und aufgenommen, die von Naomi Shemer ins Hebräische übersetzt wurden. Die Lieder der Sängerin Ofra Haza entstammen der jemenitischen Tradition, Chava Alberstein ist von der jiddischen Klezmermusik beeinflusst. Eine Metal-Band ist Orphaned Land.


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Stand: Januar 2008.

FolkWorld-Besprechungen: Geoff Berner

Photo Credits: (1) Yidl mitn Fidel (unknown); (2) Schofar im jemenitischen Stil, (3) Relief des Titusbogens mit Hazozras, (4) Süßkind von Trimberg, Codex Manesse, 14. Jhd., (5) Eugene Delacroix, Jüdische Hochzeit in Marokko, 1837-41, (6) Ahavah Rabbah Scale, (7) Adonai Malach Scale, (13) Wikipedia Logo (by Wikipedia); (8) Ruth Rubin, Voices of a People (by University of Illinois Press); (9) Velvel Pasternak, Beyong Hava Nagila (by Jewish Music); (10) Giora Feidman (by Pläne); (11) Chava Alberstein (unknown); (12) GNU Logo (by GNU Project); (14) Geoff Berner (by Walkin' Tom).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 02/2008

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