FolkWorld Live Review von Karsten Rube; 9/2002:

Ein Ägypter und viele Musiker in Rudolstadt

Eindrücke vom Tanz- und FolkFest Rudolstadt 2002

Sieben Uhr morgens im Rudolstädter Schwimmbad. Die Sonne wirft einen ersten entschlossenen Blick in mein Zelt. Ist das jetzt die rechte Zeit zum aufzustehen? Oder sollte ich vielleicht noch einen Versuch unternehmen, Schlaf zu finden. So recht will beides nicht gelingen. Neben dem Zelt kullern ein paar bunte Vögel in ihren Schlafsäcken herum. Punkiges Aussehen ist auch beim TFF nichts Besonderes und ihre lauten Versuche, sich in den Schlaf zu kichern werden nur durch wenige nicht minder laute Protestrufe müder Spätheimkehrer unterbrochen.

RudolstadtprogrammheftWer gegen fünf abgekämpft ins Zelt kraucht, möchte jetzt gern etwas schlafen. Das Klingeln eines Weckers hängt störend in der Luft. Die ersten Kinder erpressen sich quengelnd neue Windeln. Der Mitarbeiter der Versorgungsbude neben dem Zaun gibt seinem Kollegen bekannt, wie viel Brötchen und wie viel Würstchen gerade geliefert wurden. 400 Rostbratwürste nämlich, und in den Eiertopf muss mehr Wasser rein. In den Kaffee übrigens auch. Mit dieser Informationsmenge im Kopf kann ich unmöglich schlafen. Ständig kreisen 400 Rostbratwürste im überfluteten Eiertopf träge durch meine Kopfschmerzen. Ich krauche schwerfällig aus dem Zelt und blicke in den Himmel. Die Sonne war nur das Vorprogramm. Jetzt spielen sich mit großem Imponiergehabe ein paar Wolken auf und versprechen dem Tag eine feuchte Note.

Richtig hartgesottene TFF-Besucher baden bereits im gerade eisfreien Wasser des Schwimmbeckens. Ich sehe einer Frau beim ausgiebigen Duschen unter der kalten Dusche am Schwimmbecken zu. Faszinierend, diese wechselwarmen Wesen. Wir Warmblüter hingegen müssen uns unter Schmerzen waschen.

Als ich dann doch heldenhaft stolz dem kalten Schwimmbecken entsteige wie ein wiedergeborener Odysseus erwacht neben dem eigenen Leben auch das auf dem Zeltplatz. Allmählich und zaghaft, meist mit zerknitterten Kopfschmerzgesichtern, manchmal nackt, nur mit einer Zigarette bekleidet.

Eine junge Frau, die gestern Nacht noch mit der passenden Rudolstadtgarderobe - weites Kleid, schlonzig, aber luftig und mit diversen trotteligen Tüchern behängt - eifrig barfuß im Tanzzelt herumhüpfte, läuft nun in einem mit lächelnden Monden bedruckten Satinschlafanzug und dem kleinen Kulturtäschchen aus dem Heine-Katalog über die Wiese zum Sanitärtrakt. Die Sanitäreinrichtung gefällt ihr nicht, sagt sie. Man kann sich zwar Duschen mit viel Anstehen, aber es ist alles so eng. Zum Haarewaschen kommt man hier auch nicht.

Heidecksburg, photo by The MollisAuf dem Weg zum Bäcker treffe ich meinen muselmanischen Freund Ahmed. Ahmed hat es sich in diesem Jahr nicht nehmen lassen, das TFF-Rudolstadt zu besuchen. Nachdem ich ihn bereits in Berlin zu einigen Konzerten mitgeschleppen durfte, bei denen er in die Gedankenwelt des Abendlandes eindringen wollte, wurde er ganz aufgeregt, als ich ihm ankündigte, auch Emma Härdelin trete auf. Die junge Sängerin beeindruckte ihn bereits beim Garmana- Konzert.

Ich durfte ihm ein Ticket spendieren. Er käme dann nach. Ahmed erschien jedoch früher in Rudolstadt als ich und saß beim Yann Tiersen-Konzert in vorderer Reihe. Verwundert sei er gewesen, über die Andacht, mit der die Besucher diese schöne Musik des Franzosen einnahmen. Beinahe bedrückend ernst erschien ihm das Publikum. Dabei erinnere er sich sehr wohl an das allgemeine Empfinden, nachdem "Die fabelhafte Welt der Amelie" maulige Großstädter kurzzeitig in höfliche, liebenswerte Mitmenschen verwandelte. Alle waren auf aufgeräumteste Weise froh und zuversichtlich. Und nun diese fast bedrückende Andacht bei Yann Tiersens Musik.
"Wir nennen das Melancholie" sage ich.
"Ich hörte davon!" entgegnet er.

Nach dem mäßig neugierig machenden Eröffnungskonzert hatten wir uns kurz bei Stoppok zugewunken. Stoppok, so meinte Ahmed, sieht aus wie jemand, den er nicht vor der eigenen Haustür antreffen möchte. Finster und ein bisschen krank. Um so erstaunter ist er über den Auftritt dieses spannenden und sehr lebendig wirkenden intelligenten Musikers. Man sollte ihm schon genau zuhören. Mich selbst bei solchen Texten wie: "Hauptsache wir sind gesund" mitsingen zu hören, mutet mir trotzdem etwas seltsam an. Stoppok spielt auf, weil er im Ruhrpott zuhause ist, und der Ruhrpott den Regionalschwerpunkt des diesjährigen Festivals bildet. Das beschert dem Festivalbesucher Momente, wie jenen mit der Band Karibuni, die Weltmusik für Kinder spielt oder den mit den Dortmunder Blechbläsern Schwarz/Rot Atemgold, die einem Instrument zum Leben verhalfen, das sie Schrottofon nennen.

Leider bekommt auch die bedauerliche Ruhrgebiets-Altlast Frank Bayer sein Forum, der mit seinen holzhammerartigen Arbeiterkampftexten dem TFF-Besucher sein Manifest überhelfen will. Doch - und das ist das Schöne an Rudolstadt - ehe man sich ärgert, geht man weiter und freut sich woanders.

La Lionetta, phto by The MollisÜber La Lionetta z.Bsp. einer schon länger bestehenden Kapelle aus dem Norden Italiens. Ausgeschlafener frischer Folk auf traditionellen Füßen mit einer Note maurischem Einflusses, so will mir scheinen. Jedenfalls freue ich mich, dem zauseligen Sänger auf der Bühne beim Rumhüpfen zuzusehen. Die Tatsache, dass wegen der Bauarbeiten auf der Burgterrasse zwei Bühnen auf dem Hof aufgebaut wurden, die abwechselnd bespielt werden, würgt jegliche Zugaben ab. Schade.

Das Länderspezial dieses Jahres ist unserem Nachbarland Polen gewidmet. Aus Polen kommen schon seit einigen Jahren recht spannende musikalische Impulse. Klezmer ist solch ein Impuls. Bei der Cracow Klezmer Band fallen mir gleich Reihenweise Vorbilder auf. Kammerjazz trifft auf John Zorn, was noch nicht weiter verwundern muss. Auch Gipsy-Anklänge mischen sich unter. Und dann schwebt da der Geist von Astor Piazolla über der Bühne, wie ein Nebel der sich nicht auflösen will. Klezmer im Tangofieber. Während sie traurig den Zuhörern ihre melancholische Stimmung applizieren, so traurig, dass es einer Verführung zum Suizid gleichkommt, setzt die Turmuhr im Schlussakkord auch noch zwei dezente Glockenschläge drauf. So etwas gibt es wohl nur in Rudolstadt, beim TFF.

In Rudolstadt werden die von Jahr zu Jahr lästiger werdenden Fernsehteams nicht sonderlich ernst genommen. Das stetige "Wir sind vom Fernsehen und müssen hier durch" wird beiläufig und bedauernd belächelt. Kameramänner und -frauen sind auch nur Zuschauer. Doch wer permanent Kameras durch die Gegend schleppt hat keine Zeit ein Konzert zu genießen. Manchmal, wenn sie zu aufdringlich werden, muss man sie dezent, aber deutlich verscheuchen. Das gelingt vorbildlich bei einem Konzert des Finnen M.A. Numminen und seiner Band. Eine engagierte und taffe Fernsehmitarbeiterin nervt die Künstler derart durch ihr insektenhaftes Herumschweben vor den Gesichtern der Musiker, dass einer der Bandmitglieder sein Instrument beiseite legt und die Frau leidenschaftlich von der Bühne knutscht. Sichtlich in ihrem Selbstverständnis beeinträchtig zieht sie sich zurück. M.A. Numminen hat es aber auch sonst nicht leicht mit seinem Publikum. Auf der Heidecksburg singt er seine Brachial-Tangos, seinen neorealistischen Bauernjazz in deutscher Sprache. Hauptbuchstabe ist dabei das R, welches er auch in Worten hervorrollen lässt, in denen das R gar nicht vorkommt. Die Mähne auf seinem Kopf führt ein Eigenleben und das Publikum skandiert eifrig "Helge, Helge". Im Burghof, in der kleinen Senke neben der Bühne planschen Kinder in den stehenden Pfützen und bekommen den Applaus und die Lacher der umstehenden Gäste. Der finnische Helge Schneider ist irritiert, wieso an Stellen Applaus aufbraust, an denen er selbst gerad nicht agiert.

M.A. Numminen und Band, photo by The MollisRudolstadt zeigt viel Herz für seltsame Vögel. Einer dieser Exoten ist zweifelsohne Willy DeVille. Mein Freund Ahmed benötigt einige Momente bis er das Wortspiel von DeVille und Devil versteht. Das grüne Licht verpasst dem dünnen Mann auf der Bühne das Aussehen eines Zombies. Es wäre zum Fürchten, wäre es nicht auf so exzentrische Weise perfekt, was der gereifte deVille veranstaltet. Während er singt und raucht, was außer Tom Waits, der dazu auch noch trinkt, kaum einer so stilecht beherrscht, ziehen in meinen Gedanken die Mississippi-Streamer vorbei und der Geschmack von Southern Comfort liegt mir auf der Zunge. Solch unverwaschene Klischees muss man erst einmal hervorzaubern.

Nachts will der Festivalbesucher im Tanzzelt schwitzen. Zum Beispiel bei Djal. Djal kommen aus Frankreich und bedienen das gesamte Repertoire, das auf Folk-Bällen benötigt wird: Kreistänze, Mazurkas, Bourrées. Manchmal drehen sie ein bisschen durch und der lästige Vergleich vom Jimmy Hendrix auf der Drehleier exhumiert sich. Die Musiker sind allesamt festivalerfahren. Das TFF besuchten sie bereits, wenn auch unter anderem Namen. Einst gastierten sie als Dedale. Die erste Band übrigens, die ich in Rudolstadt je hörte. So etwas prägt.

Auch Lautstärke prägt. Besonders nachts, wenn längst nicht jedes Konzert beendet ist, die Müdigkeit jedoch größer, als der Durchhaltewille. Trotzdem lasse ich mir die schwedische Band HovenDroven nicht entgehen. HovenDroven gehören neben Garmana und Hedningarna zu den erfolgreichsten neuen Folkrockwundern Schwedens. Sie sehen brav aus, ein bisschen erinnern sie mich an die Moderatoren vom Kinderkanal. Sie sagen eine Polka oder einen Walzer an und jagen einen HeavyMetal Riff nach dem nächsten aus der E-Gitarre. Dieses Konzert ist definitiv laut. Begriffe wie fetzig liegen mir auf der Zunge. Es ist ein wildes Rockspektakel bei dem die traditionelle Ursuppe erkennbar bleibt, aus der alles herausgerührt wurde. Als Gast erscheint Emma Härdelin auf der Bühne - leider nur für ein Lied.

Triakel, photo by The MollisDie keusch wirkende junge Sängerin der Gruppe Garmana bekommt ihren eigenen Auftritt am Sonntagnachmittag. Zusammen mit dem Geiger von HovenDroven, Kjell Erik Erikson, und Janne Strömstedt am Harmonium intonieren sie unter dem Namen Triakel Mörderballaden und finstere Lieder aus dem Liedgut skandinavischer Nordnächte. Dies zu einer Musik, die so fröhlich klingt, als wäre sie für Kinderlieder geschrieben. Eine wunderbare Mischung, die einem süße Schauder über den Rücken jagt. Angenehmerweise singt sie schwedisch, was ich nicht verstehe, und so bleiben mir die Melodien und die Vorstellung von dem, was in den Texten vorkommt.

Mein Freund Ahmed, bei dem ich angesichts der schwedischen Sängerin Emma Härdelin leichte Vergötterungssymptome feststelle, versucht es so realistisch wie möglich zu sehen: "Stell dir vor, jemand würde die BILD-Schlagzeilen zur Musik aus dem Musikantenstadl singen!" "Ahmed," antworte ich. "Dein Verständnis der abendländischen Kultur weißt noch reichlich Defizite auf!"

Im nächsten Jahr, beim "nächsten Gipfel der multikulturellen Weltverbrüderung", wie Ahmed resümiert, will er auf jeden Fall wieder dabei sein. Dafür muss ich im Herbst wieder auf einen seiner gefürchteten Bauchtanzworkshops.

Photo Credit: All photos by The Mollis: (1) Heidecksburg, (2) La Lionetta, (3) M.A. Numminen und Band, (4) Triakel

Einen weiterer Bericht vom TFF Rudolstadt 2002, "Glück auf, Knie nieder, und Heidevitzka", hat Tom Keller beigetragen.
Das TFF Rudolstadt der vergangenen Jahre in FolkWorld: 2001a, 2001b, 2001c, 2000a, 2000b, 2000c, 2000d, 1999a, 1999b


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 9/2002

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