FolkWorld-Artikel von Walkin' T:-)M:

Die FolkWelt zwischen Harz und Heide (4):

Musieke, wei willt musieke maken!

Das im nordwestlichen Harzvorland gelegene Salzgitter war "während des gesamten 19. Jahrhunderts und noch bis in die Zeit vor dem ersten Weltkrieg als Musikstadt in aller Welt bekannt. Salzgitter überragt - was Menge und räumliche Weite der von hier ausgehenden Musikreisen betrifft - bei weitem sämtliche anderen Musikantenorte der Erde" (A. Dieck). Sechs bis siebentausend Söltersche Stadtkinder haben im Lauf der zwölf Jahrzehnte von 1790 bis 1900 in aller Herren Länder "geklesmert" - am russischen Zarenhof als auch im australischen Outback. Die Wandermusikanten von Salzgitter haben dabei Reiseabenteuer erlebt, die der Phantasie Karl Mays entsprungen sein könnten.

Die Stadt Salzgitter, d.h. der heutige Ortsteil Salzgitter-Bad, ist im 12. Jhd. um die Salinenanlage entstanden, die dem Ort seinen Namen gegeben hat. Klesmer-Plastik, Salzgitter-Bad An der Fernhandelsstraße zwischen Rhein und Elbe gelegen, die den Harz nördlich umgeht, belasten seit dem 14. Jhd. durchziehende Heere die Stadt. Am Bekanntesten ist die Schlacht bei Lutter am Barenberg im Jahr 1626: Der Dänenkönig Christian IV. wird von den Truppen Wallensteins und Tillys vernichtend geschlagen; Tilly nimmt im Salinengebäude (Tilly-Haus) Quartier.

1481 beteiligt sich Salzgitter an der Bierfehde auf seiten des Landesherrn, Bischof Bertold II. von Hildesheim, gegen die südniedersächsischen Städte: Der Bischof verlangt eine ausserordentliche Biersteuer von seinen Untertanen, um die Schulden des Hochstifts zu mindern. 1481 wird Salzgitter von goslarschen und braunschweigischen Bürgern belagert und durch Beschuss teilweise zerstört. Es geht die Sage umher:

Gerade als Luther geboren wurde, war das, da kam der Braunschweiger nach Salzgitter und sagte: Ihr macht hier so gutes Bier. Das ist aber zu teuer. Wenn Ihr mir das nicht billiger gebt, dann machen wir Krieg. Nun konnten die das doch nicht billiger machen. Da kam der Braunschweiger wieder nach Salzgitter und brachte seine Soldaten mit. Braunschweig ist aber viel, viel größer als Salzgitter und da sind die Braunschweiger reingekommen und haben alle Salzgitterer tot gemacht. Auch die kleinen Kinder. Da ist kein einziger Mensch am Leben geblieben. Und die doch leben blieben, mussten Wandermusikanten werden und zogen bis nach Amerika. So ist das.
Im 15. Jhd. hat die Söltersche Bevölkerung aber noch nicht zu Wander- und Dirigentenstab gegriffen. Genausowenig wie zuvor das 818 aus Böhmen eingewanderte Geschlecht derer von Kniestedt - die Kniestedter Kirche ist heute ein ausgewiesener Veranstaltungsort für Konzerte und Kabarettabende - die Klesmermusik mitgebracht hat.

1523 entreisst Herzog Heinrich d.J. von Braunschweig die Stadt dem Hildesheimer Stift und enteignete die zahlreichen Salzsieder. Die Stadt verarmt, zum Wanderstab greifen die besitz- und erwerbslos gewordenen Salzgitteraner aber immer noch nicht. Zunächst schafft der überregionale Schnapsgroßhandel eine neue Erwerbsquelle, die ärmeren Bevölkerungsschichten entdecken das Straßenentertainment:

Ach, das war damals schlimm. Die hatten noch nicht mal genug Brot, die in der Töpferreihe. Und dabei die vielen Kinder. Und gute Ernte war all die Jahre auch nicht gewesen. Nun mussten sie betteln. Und wenn dann ein Wagen kam, so von vornehmen Leuten, die durch die Stadt fuhren oder in'n Badehaus baden wolten, dann kamen sie, die Töpfer, und machten so Fijuckchen, dass die lachen mussten, die n'n Wagen, und dann gaben die'n Geld, die in'n Wagen. Viel haben sie ja davon versoffen, aber vieles gaben sie auch fürs Essen für die Kinder. Und die aus der Töpferreihe und aus'n Winkel machten Koppskegel und gingen auf einer Hand und machten noch all so'n Blödsinn.
1827 antwortet das Amt Liebenburg auf die Beschwerden der Königlichen Landdrostei August Söchting, Salzgitter 1949 zu Lüneburg über das Umherziehen von Salzgitterschen Musikanten:
In dem sehr überbevölkerten Orte Salzgitter befindet sich eine große Menge Menschen, die bei Ermangelung genügender Nahrungsquellen und wegen fehlender Gelegenheit zum Verdienst, sich ihre Subsistenzmittel an Ort und Stelle nicht verschaffen können, sich deshalb auf die Musik verlegt haben, und durch Umherreisen teils im Auslande, teils im Inlande, sich und ihre Familien zu ernähren suchen.
1853 beschwert sich selbiges Amt sogar:
Der Betrieb des Musikgewerbes hat eine solche Ausdehnung gewonnen, dass bei seiner im verflossenen Jahre vorgenommenen Zählung sich 600 Musikanten vorgefunden haben. Ausserdem ist eine sehr beträchtliche Anzahl Ausländer [d.h. aus dem Großherzogtum Braunschweig] als Gehilfen oder Lehrlinge vorhanden. Nur eine geringe Anzahl sind Musiker zu nennen, der bei weitem größere Teil verdient nicht diesen Namen. Es gereicht die Übung einer solchen Anzahl unharmonischer Hornbläser in den Winter-Monaten zu nicht geringer Ohrenplage der hiesigen Einwohner. Die Mehrzahl wird durch das umzüglerische Leben zu Vaganten und arbeitsscheuen Subjekten herangezogen. Vielleicht in den nächsten zehn Jahren wird sich bereits ein großer Teil abgenutzter und brotloser Musikanten vorfinden, die ohne alle Erwerbsquelle und Arbeitsfähigkeit dem Gemeinwesen gefährlich und für die Gemeinden eine Quelle großer Last werden müssen. Diese Angelegenheit ist um deswillen von höheren Interessen, weil nachgerade alle jungen Leute auf dem Lande, die besser sich als Enken [Ackerknechte] oder Dienstboten zur Arbeit gewöhnten, in das Musikfach übergehen, viele nur, um dem Militärdienste zu entschlüpfen.
Das aufkommende Wandermusikantentum konzentriert sich vor allem auf die Orte Salzgitter und in geringerem Maße auf Hundeshagen im Thüringer Eichsfeld und Preßnitz im Fichtelgebirge. Als Gründe für deren weitere Entstehung werden genannt: die französische Revolution, die die Menschen aus Angst vor einem Übergreifen der politischen Wirren in die Vergnügungssucht treibt; die Wirtschaftskrisen und Missernten in der ersten Hälfte des 19. Jhds.; die Aufhebung der Gilden 1809 und die Gewerbefreiheit; das Aufblühen von Männergesangsvereinen und Laienmusik um 1800.

1780 ist noch kein einziger Musikant in Salzgitter bezeugt. 1800 sind es schon 16, d.i. 8% der berufstätigen Bevölkerung, und 1812 sind es 41. Im Jahr 1845 gibt es 74 Kapellen mit 4-8 Mitgliedern. Unter den 74 Kapellenführern - jedes 7. steuerpflichtige Familienoberhaupt verdient durch Musik Lebensunterhalt - befinden sich 15 Frauen. Die Witwe Biel verdient soviel, dass sie die gleichen Steuern wie der Beseperessko (Bürgermeister, zig. Dickwanst) zahlen muss.

Was die Anregung ist, den Musikantenberuf zu ergreifen, bleibt unbekannt. Ferdinand Flecks & August Söchting, Trageweise von Geige & Harfe 1949 Eine Überlieferung will wissen:

Zur Zeit, wie die in Frankreich Revolution machten - ich meine die von Nabolium - da hatten sie hier nichts ze beissen. Da kam mal hier einer her aus Kotskapp [Gottesgab, Sudetenland]. Der war krank. Bein kaputt. Den hat die alte Kittlern gepflegt. Die hatten ja auch nichts ze beissen und dann die vielen Kinder und auch welche krank. Und da hat er ihr aus Dank gesagt, was sie machen sollte. Und ne Harfe hat er gehabt, seine Frau war auch mit, und ne Geige hatte er auch. Und da hat er's ihr gezeigt, wie sie's machen sollte. Und das ist die erste gewesen. Da ham s'es alle nachgemacht.

Wissen se, de Franzosen machten doch immer so viel Revolutschonen un haben ihre Königs da immer tot gemacht. Un de erste Revolutschon da vor Napolion, Lustik sagtense vor den [Verwechslung mit Napoleons Bruder Jerome], war da plötzlich in Paris. Und da hatten se alle Angst vor de Franzosen, dass se auch bei uns Revolutschon machen täten. Un da wurden se auch alle lustik. Un da gings genau so, wie se jetzt bein Krieg in Korea [1950] bei uns hier so ne verückte Sambaschutterei [Samba-Tanz] singen: Ei, ei, ei, Korea - der Krieg kommt immer näha. Un da tanzten se viel. Un Musike war doch nicht genug, nur son paar Stadtpfeifers in die großen Städte un welche aus Böhmen. Und da haben se kleene Harfen gekauft un ne Fleitsche [Flöte] un ne Lätze [Geige] und so haben se geklesmert [musiziert]. Das sind so mit der Zeit ganz viele geworden. Un alles wegen de Revolutschon bei de Franzosen un weil se bei uns Schiet in de Büx hatten.
Interessanterweise gehen alle Berichte von einer sudetendeutschen bzw. böhmischen Anregung für die Entstehung des Salzgitteraner Musikantentums aus. Die christlichen Musiker bezeichnen sich als Klesmorim.

Je nach Können werden Volkslieder, populäre Schlager, Tänze oder anspruchsvollere Ouvertüren und Potpouris vorgetragen. Kleine Kapellen beherrschen nur gut ein Dutzend verschiedene Stücke, wie typischerweise "Als der Großvater die Großmutter nahm", "Im Grunewald ist Holzauktion" [-> FW#26], "An der schönen blauen Donau" [-> FW#13] - oder der Schottische "Was krabbelt in dem Busch herum, ich glaub, das ist Napoleum". Am Ortsausgang erklingt natürlich "Muß i denn, muß i denn zum Städele hinaus" [-> FW#28].

Jiddische Klezmermusik wird jedenfalls nicht gespielt. Die Fama berichtet aber vom Sattler und Musicus Louis Kalkmeier, der in Südosteuropa mit Zigeunern zusammenkommt:

Durch irgendeine Unvorsichtigkeit seitens von Zigeunern geriet er zwischen die Pranken eines Tanzbären und wurde schwer verletzt. Die Zigeuner nahmen ihn zu sich und pflegten ihn gesund. Fast ein Jahr blieb er bei ihnen, half seinen Gastfreunden und lernte von ihnen Zigeunerweisen. Die zigeunerische Art des Musizierens, also das variierende Spiel ohne Noten, lehrte er den August Kopmann und noch zwei anderen Salzgitterern. Mit ihnen wanderte er nach Nordamerika aus und verdiente durch seine feurige Musik viel Geld. Besondere finanzielle Erfolge hatte seine Kapelle bei der Weltausstellung in Philadelphia im Jahre 1876.
Die einfachste Besetzung besteht aus einer Lätze (Geige) und einer Babbe oder Gartenpforte (Harfe). Die Schallerei (Gesang) der Harfenistin begleitet oft das Spiel beider Instrumente, bei einem Teil der Harfenkapellen tritt noch eine Flöte hinzu. Die meisten Harfenkapellen spielen mit Doppelbesetzung. Seit den 1850ern Salzgitteraner Bläserchor, Rio de Janeiro 1890 werden die Harfen teils durch Klimperfinniche (Gitarre) und Grotmudder (Kontrabass) ersetzt.

Blaskapellen bestehen anfangs aus einem Quartett, das sich ihr Geld als Straßenmusiker verdient. Um 1830 gehen die tüchtigeren Kapellen dazu über, nur noch als Konzertkapelle zu musizieren. Sie nennen sich Chöre (wahrscheinlich von Corps), bestehend aus mindestens 4-6, meistens aber 12-14 Mann. Zu den Blechblasinstrumenten treten Holzblasinstrumente und Trommel.

Vor allem invalide Musiker ziehen mit dem Treckebühl (Ziehharmonika) über die Jahrmärkte. Auch Dudelsackkapellen sind in geringer Zahl nachweisbar. Diese bestehen aus 2-6 Pfeifern sowie Trommlern. Die Familienkapelle Hanstein benutzt gar Sackpfeifen, deren Blasebalg mit dem Ellbogen bedient wird. Offenbar sind die Dudelsäcke aber besonders vom Unglück verfolgt: Die Instrumente der Kapelle Günther werden 1843 bei einem Brand in Hamburg vernichtet, die Kapelle Felder geht 1856 auf dem Weg nach England in der Nordsee unter.

Die meisten Instrumente werden im Musikwinkel Sachsens, dem Vogtland, gefertigt. Aber auch in Salzgitter werden Instrumente geflickt und hergestellt. Die Hakenharfen, 1 Meter hoch mit 3-9 Saiten und Haken zur Erhöhung um einen Halbton, werden 50 cm höher gebaut, da sie dadurch einen volleren Klang bekommen. (Der Pedalmüller ist in den 1860ern der Einzige, der eine Pedalharfe spielte, aber die Pedale werden regelmäßig auf dem Transport beschädigt.)

In Markneukirchen hat der Geigenbauer Sachse die Methode erlernt, neue Geigen zu Ferdinand Flecks & August Söchting beim Musizieren, Salzgitter 1949 Altgeigen der berühmten italienischen Instrumentenbauer zu fälschen:

Hierbei half ihm insofern der Salzgitterer Magistrat, als er ihm aus alten Aktenbeständen unbenutztes Papier zur Verfügung stellte. Auf diesem Papier ließ Sachse die echten Geigenzettel der alten Meister nachdrucken, die er dann mit einer besonderen Tinte beschrieb. Anschliessend trugen er und seine Angehörigen die Zettel enige Tage in ihren Schuhen, um den Geigenzetteln ein ganz echtes Aussehen zu verleihen. Die einzelnen Holzteile der Geige bearbeitete Sachse vor dem Zusammensetzen, um sie zu altern, in Bädern aus Lakritze, Walnußsaft oder Kaffee. Da so eine Geige aber immer noch zu neu aussah, wurde sie geflickt. Wo der Stimmstock auf die Geigendecke drückt, wurde der Schaden augenfällig ausgebessert. Die Wirbel mussten wirklich abgenutzt und abgeleiert sein. Schließlich wurde mehrere Male lackiert, der Lack mit Sandpapier abgeschliffen und wieder lackiert. Vor dem Zusammenbauen der Teile hatte dann Sachse das Geigeninnere mit Kolophonium eingerieben, eingestaubt und mit dem gefälschten Geigenzettel versehen.
Die ersten Salzgitteraner Musici der Jahre 1790 bis 1812 gehen vor allem in Nordwestdeutschland auf den Strich. Eine Musikreise dauert etwa 2-18 Wochen, im Jahr werden etwa 3-8 verschiedene Touren unternommen. Meist zu Fuß, manchmal mit dem Pferdewagen.

Oft kommt es zu Differenzen mit den Glühpickeln (Gendarmerie). Deutschland ist noch in viele kleine und rechtlich selbständige Gebiete zerteilt. In jedem Einzelnen muss erst eine Spielerlaubnis eingeholt werden. Seit ca. 1850 wird im Hannoverschen verlangt, dass eine Kapelle vor dem zuständigen Landrat zur Probe spielen muss. Nach 1880 wird das Zwangsvorspielen wieder aufgehoben, weil nur noch gute Musik liefernde Kapellen reisen.

Der erste Weg im Ort führte zum Bürgermeister und Ortspolizist. Von ersterem wurde die Spielerlaubnis eingeholt, dem letzteren die Fleppe (Gewerbeschein) gezeigt. War die Erlaubnis erteilt, so wurden vor dem Haus oder im Hausflur des Bürgermeisters drei Lieder gespielt, denen nach Empfang einer Gabe ein viertes folgte: Nu willwe noch einen klesmern. Danach wurde das nächste Haus aufgesucht und in derselben Weise bespielt. War die Gabe nicht nach Zufriedenheit ausgefallen, so entfiel das vierte Lied. War die Kapelle im Ort beliebt, so durfte sie sich auch die Freiheit erlauben, vor dem Haus eines als knauserig bekannten Bewohners zum Ergötzen der Nachbarn einen disharmonischen Tusch zu blasen. So ging es von Hof zu Hof, von Haus zu Haus.
Abends wird in den Gaststätten aufgewartet. Die Kapelle spielt die üblichen drei Melodien, Wünsche werden nach vorheriger Bezahlung in bar oder in Form von Schnaps gespielt. An einem Abend können so 4-9 Gaststätten aufgesucht werden. Manche Gastwirte veranstalten Tanzvergnügen als Groschenfeste. Dabei wird immer ein Tanz gespielt und danach von jedem Tanzpaar ein Groschen kassiert. Viele Musiker müssen dennoch nebenbei noch einem Nebenerwerb nachgehen, sei es als Saisonarbeiter und Händler, Scherenschleifer oder Kesselflicker.

Als Napoleon gen Moskau zieht, müssen auch Salzgitteraner den Fahnen folgen. Ein gewisser Dammeyer trennt sich vom geschlagenen Heer und gründet in Petersburg eine Blaskapelle. 1820 spielt er am Zarenhof zur Schütterei (Tanz) auf. Bei vielen Kapellen wird es bald beliebt, durch Russland zu ziehen: viele bunte Menschen, Lehrlingskapelle Sonnemann, Russland 1872 viele Dörfer mit viel Verdienst. Eine Musikantin wird die Frau linker Hand eines russischen Fürsten. Die Kapellenführer Miehe und Weichmann erfinden folgenden Trick, um die Einnahmen bei Tafelkonzerten zu erhöhen:

Wenn da ein großes Fest war, da ging er zum Kleiderverleiher. Und da borgte er sich einen Frack und was so zugehört. Und da tat er vornehm und ging zum Fest und setzte sich an das eine Ende der Tafel. Und dann kamen seine Leute und klesmerten. Wenn sie drei Stücke geklesmert hatten, dann ging einer mit dem Notenblatt sammeln. Zuerst ging er zu Miehe. Und so, dass sie es alle sahen. Da legte er einen Dukaten aufs Blatt. Da mussten doch die anderen auch einen Dukaten geben, sonst mussten sie sich was schämen.
In die Niederlande und das nördliche Belgien fahren die plattdeutsch sprechenden Musiker gerne: Die wussten Feste zu feiern! Ganz anders als in Deutschland. Viel getrunken wurde nicht, aber lustig waren sie und viel Geld gabs - und zu essen! Beliebte Reiseziele sind auch Schweden und Norwegen.

Frankreich fällt vor 1870 aus politischen Erwägungen der deutschen Behörden aus, schwere Strafen werden angedroht, in das Land der Revolution zu reisen. Auf die Britischen Inseln fahren die Wandermusiker trotz Personalunion zwischen dem Königreich Hannover und Großbritannien nur äusserst ungern:

Die armen Schlucker hatten oft noch weniger wie wir. Und die Reichen waren verflucht knaus'rig und Aufschneider. Wenn bei uns mal einer so hochnäsig war wie die da und aufschnitt, dann sagten wir immer Grotbritantscher von ihm
Im Norden von England, wo die Schotten wohnen, haben wir nichts können machen. Mit ihren Dudelsäcken zogen die rum. Die wollten alle nicht unsere Musik.
In Irland war ich nur zwei Wochen. Die waren alle so heilig und Geld hatten die auch nicht.
Nur in dem deutschen Siedlungsgebiet südwestlich des irischen Limericks finden die Wandermusiker eine bessere Verdienstmöglichkeit. Eine Salzgitteraner Kapelle in der Besetzung von zwei Harfenistinnen, einem Geiger und einem Flötisten ist in den 1890ern Damenkapelle Sonnemann, Russland 1874 mehrmals dort gewesen. Sie singen deutsche und englische Lieder und tragen irische Weisen vor. Rund um Rathkeale und Pallas Green (Pfälzer Grün) sind nämlich 1710 Pfälzer Auswanderer auf dem Weg nach Nordamerika hängengeblieben. Heute künden davon nur noch Nachnamen wie z.B. Rosenstock [-> FW#23].

Abgesehen von Griechenland - aufgrund des griechischen Königs Otto I., Sohn Ludwigs I. von Bayern - wird das nördliche Mittelmeergebiet nicht bespielt, vermutlich wegen der großen Armut und den geringen Verdienstmöglichkeiten. Auch die Österreich-Ungarische Monarchie und der Balkan werden nur als Durchzugsgebiet genutzt. Das ist schon schlimm genug: die Kapellen werden von Wölfen angegriffen und von Räubern überfallen, in einem Fall stirbt die gesamte Besetzung an der Cholera. Aber dies bietet auch eine anregende Quelle für Jägerlatein:

In meiner Jugend bin ich mit meinem Vater nach Böhmen. In Prag, ist auch kein anderer Ort als Salzgitter, nur dreckiger, haben wir das erste Pilsener Bier getrunken wie Wasser. Als wir im Herbst zurück durch den Böhmerwald nach Deutschland gingen, hats hinter uns gesummt und gebrummt, als ob einer den dicken Bass geigt. Mein Vater sagt: Da spielt ja einer den dicken Bass. Woll'n mal sehen, ob er auch aus Salzgitter ist. War aber keiner aus Salzgitter, sondern ein großmächtiger wilder Tanzbär. Der hat uns fressen wollen. Ausreissen hat keinen Zweck mehr gehabt. Mein Vater nimt also Spreizstellung, fasst den Bass, und als der Bär sich auf die Hinterbeine stellt und den Rachen aufreisst, dass man den Schwanz durch den Schlund hat sehen können, haut er ihm den Bass über den Kopf, dass er darinnen steckt wie der Heini in meinem Alten seinen Kirchenhut. Du hohes c, da hat das Biest nicht gucken und nicht rauskönnen. Er ist auf einmal so zahm gewesen wie der Barrenstein, wenn ihn seine Alte um zwölf aus der Kneipe holt. Mein Vater hat den Bären am Basshals hinter sich hergezogen wie eine Ziege am Strick. Wir wollten ihn mit nach Salzgitter nehmen für meinen kleinen Bruder, aber dem Grafen Osterwinsky im Böhmerwald hat das Untier so gefallen, dass er ihn uns für 30 Thaler und eine Bassgeige abgekauft hat. Den Bass haben wir behalten, die Thaler vertrunken.
Die Süd- und Ostküste des Mittelmeeres sind ein häufiges Reiseziel. In Ägypten sind die Kapellen spätestens 1836 tätig, aber sie geben alsbald auf, in den Dörfern zu spielen, da die sone dolle Jamer Musiek haben un für unßre gute Musiek nur Lachen haben. In die Stätte is das beßer. In die forneme Kreiße die sin nich so streng Mohamets. Un fihle Christen. Der Urgroßvater eines Informanten hat als Begleiter eines Forschungsreisenden Marokko bereist. Der Professor besitzt einen Schutzbrief eines Berberstammes, eine anaia:
Der Musicus Tolle oder Folle oder so ist in Mar[a]kesch ermordet worden. Da hat sich nämlich so einer von den braunen Negern an seine Braut machen wollen - das ist so ein eingeborener Fürst gewesen - und das hat er nicht leiden wollen, und da hat der den gleich erstochen, den Folle oder Tolle. Mein Großvater hat mir das erzählt. Und der Vater von meinem Großvater ist mitgewesen bei den Berbel oder Berben oder so hatten die geheissen. Ja, der Vater von meinem Großvater hatte eine Antje und die haben sie immer gezeigt, wenn sie in so ein Dorf kamen. Und wenn sie dann zu dem Bürgermeister von den Dorf kamen, dann sagten sie: Hier ist unsere Antje, und da dürft ihr uns nichts tun. Ob die Antje ein junges, hübsches Mädchen gewesen ist, oder so, weiss ich nicht. Ob das die Frau von dem Professor war? Aber zu so einer Dame konnte er doch nicht Antje sagen.
Mehrmals wird das Grab Evas vor den Toren Scheddas (Djidda), der Hafenstadt von Mekka, von Salzgitteranern besucht. Dort wird 1858 der Flötist Johann Fischer während eines Blutbades, bei dem auch der englische und der französische Konsul umkommen, ermordet.

Ein Salzgitteraner Musicus hat sogar das für Christen verbotene Mekka besucht. August Behrens wird um 1840 im Mittelmeer von Sklavenjägern gefangengenommen. Er tritt zum Islam über und gehört im Gefolge eines hohen türkischen Beamten zu einer Eskorte, die den Heiligen Teppich von Kairo nach Mekka begleitete. Später ist er Offizier im Dienste des Vizekönigs von Ägypten.

In Abessinien 1855 rettet der Geigenspieler Julius Bock (Onkel Böckchen) einen Karawanenführer vor einem Wildwasser und heiratet dessen Tochter: Und weil er die Kapelle C. Brill u. Comp., Rio de Janeiro 1862 Leute und auch das Land so gut kannte, hat er später vielen Menschen helfen können, als der Negus [Theodor II., Kaiser von Abessinien] so ein halber Hitler wurde und Europäer [18]64 ins Gefängnis steckte. Da waren auch Musiker dabei aus Salzgitter.

Im Herbst/Frühjahr 1832/43 verlassen 41 Kapellen Salzgitter: 17 ziehen nach Nordamerika, 6 nach Australien, 4 nach Argentinien, 4 nach Brasilien, 3 nach Chile, 3 ins Osmanische Reich (Balkan), 2 nach Mexiko und 2 nach Südafrika.

Das erste Land in Übersee, das nachweislich von Salzgitteraner Musikern aufgesucht wird, ist Mexiko: Ein Christian Rampe lässt sich 1809 zur in England gegen Napoleon aufgestellten German Legion anwerben. In den Kämpfen verliert er ein Bein. Rampe heiratet und emigriert mit seiner Familienkapelle 1812 nach Vera Cruz. Auf demselben Schiff, das Kaiser Maximilian 1864 nach Mexiko bringt, befindet sich ebenfalls eine Salzgitteraner Kapelle.

Aus klimatischen Gründen wird Chile bevorzugt, doch sind die Verdienstmöglichkeiten nicht gerade rosig, wie ein Bericht über die Gaststätte Zum Schwarzen Hund zeigt:

Da gieb es Diebe! Man kann sich das garnich denken, so doll is das! Da haben wir inn Schwartzen Hunt Musik gemach. Da waren wir hungrich. Da sind die Teler aus Blech un ann Tiesch genagel. Da häng die Löfel an einen Eisenkete ann Tiesch, da die stelen.
Der Kapellenführer Konrad erklärt seinen Spitznamen Onkel Ecke:
Ja, da war ein mächtiger Sturm, wie wir um Cap Horn segelten. Der Kapitän hatte mächtige Angst, dass das Schiff an der Ecke von Südamerika anstoßen und untergehen könnte. Ich habe ihm gesagt: Das werde ich schon machen. Als wir an die Ecke kamen, trieb uns der Sturm ganz nah an die Ecke. Schnell wolte ich das Schiff mit meinem linken Bein abstoßen. Aber ich rutschte ab. Da habe ich meinen großen Zehen dazwischen gehalten. Da gab es einen Ruck und ein Stück von der Ecke von Südamerika brach ab. Sonst ist nichts passiert.

1816 landet die Harfenkapelle Wolf in Neu Jork; 1821 wird die gesamte Kapelle von Christian Berends fon Indijers un en Weisen, der bei sie war, tod gemach in Setlement. 1827 feiert eine Kapelle große Erfolge in New Orleans, als hier auf Anregung französischer Studenten zum ersten Mal der Karneval gefeiert wird. (Das lässt Harfenkapelle Miehe, New York 1870 den heutigen Amtsleiter im Kulturamt, Dr. Jörg Leuschner, folgern, dass Musiker aus Salzgitter Klänge aus Südamerika nach New Orleans gebracht und somit den Jazz beeinflusst haben.

In den 1850ern zieht der Geiger Enrico Weichler mit seiner jungen Frau und Harfenistin mit einem Zug von Farmern durch das Indianergebiet. Eines Nachts werden sie von Indianern überfallen:

Heimlich riet der Wegeführer Enrico und seiner Frau, unter Körperverrenkungen und Gesichtsverzerrungen auf ihren Instrumenten zu spielen. Sie alle wollten dazu singen, dass die Indianer dächten, sie seien allesamt verrückt. Verrückten täten die nämlich nichts. Und so machten sie es auch. Und die kamen alle mit dem Leben von. Eine von den Mädchen, die bei de Farmern war, hat dann den Häuptling geheiratet. Und alle Farmer konnten da wohnen.
Dem Enrico sein Enkel war ein Onkel von mir. Meiner Mutter Schwester hat ihn 1889 geheiratet, und eine andere Schwester meiner Mutter hat den Enkel von dem Häuptling geheiratet. So'n Roten! I gittegitt! Meine Mutter sagte aber, die sind alle sehr glücklich gewesen. Und als ich klein war, da war mal einer von denen hier in Braunschweig; das soll der Sohn von dem Indianer sein. Aber rot war er nicht.
Zur gleichen Zeit macht ein Salzgitteraner seinem Sohn den Vorschlag, mit seinem Bläserchor einen Vertrag mit der US Army einzugehen, um als Militärvertragskapelle ein Auskommen zu finden. Der antwortet: Mit dem Militär ist nichts zu machen. Es stünden nur 5.370 Mann unter Waffen. So war das um 1850!

Blaskapellenführer Hertel erregt sich und warnt Amerikafahrer vor den Südstaaten: 3.600.000 Coloured sint noch Slaves. Eine große Schante für die White Men. (Die Leibeigenschaft ist im Hannoverschen auch erst 1848 abgeschafft worden; aus Salzgitter wird berichtet, dass bis dahin noch das ius primae noctis gehandhabt worden sei.)

Die Familienkapelle Kerntner spielt zu den Festen der Großgrundbesitzer, zusammen mit den beiden Töchtern, die Tiffel (Klarinette) und Geige spielen. Eine der beide Töchter heiratet einen Großgrundbesitzer, mit dem sie über hundert Sklaven besessen haben soll, die zweite namens Euphronia

fuhr einst, es muss um das Jahr 1855 gewesen sein, auf dem Arkansas spazieren. Plötzlich kam ein Unwetter auf, das das Boot zum Kentern brachte. Der Negersklave Sambo, der ihr kurz zuvor von einem Verehrer geschenkt worden war, rettete sie unter eigener Lebensgefahr. Diese Tat brachte sie ihrem Lebensretter nahe. Sie schenkte ihm die Freiheit und ihre Freundschaft. Etwa zehn Jahre später - sie waren beide inzwischen etwa 25 Jahre alt geworden - heirateten sie. Und nun gründete Euphronia eine eigenartige Kapelle. Die Instrumentalbesetzung war zwar dieselbe, wie sie ihre Eltern anfangs gehabt hatten. Euphronia spielte Geige, eine Negerin Flöte und eine weitere Negerin Harfe. Doch die Kapelle spielte nur vor Negern. Euphronia und ihr Mann wollten einmal der reinen Unterhaltung der schwarzen Bewohner der USA dienen, sie wollten zum andern aber auch belehrend und erziehend wirken. Bei Tanzvergnügen spielte die Kapelle zum Tanz. Bei ernsten Veranstaltungen wurde Sambo zum Lehrer und Laienprediger und die Kapellenangehörigen zu einem geistlichen Chor und Orchester. Abends und sonntags erteilten Euphronia und die weiblichen Mitglieder der Kapelle schwarzen Mädchen und Frauen Unterricht im Lesen, Schreiben, Rechnen, Religion, Handarbeiten, Hausarbeiten, Säuglingspflege und erster Hilfe. Sambo und die männlichen Mitglieder der Kapelle widmeten sich der Ausbildung der Männer und Jünglinge. Im Februar 1890 oder 1891 ist die Kapelle von Weissen - angeblich Angehörigen des Geheimbundes Ku-Klux-Clan - überfallen worden. An den Folgen der Martern starb Euphronia Anfang April 1891. Ihr Mann war bereits vorher den Verletzungen erlegen.
Die meisten Kapellen wandern Richtung Westküste. Auf den kalifornischen Goldfeldern 1848 eröffnet Heinrich Vette eine Schankstätte mit Schlachtereibetrieb. Die Kinder sind als Kellner und Stimmungskapelle tätig. 1851 wird auch in der ehemals englischen Strafkolonie Australien Gold entdeckt. Stoff für Seemannsgarn:
Als wir das letzte Mal mit der Anna Pauline nach Australien segelten, hatten wir bei den Reeling-Inseln vier Wochen keinen Fatzen Wind. Dabei war es heiss, dass die Schweisstropfen nur so sprühten, wenn man sich schüttelte. Der Kapitän stöhnte: Lieber Gott, ich bitte dich nur um ein bißchen Wind. Sollen wir denn nie von hier wegkommen? Da erbarmten wir Salzgitterer Musikanten uns des guten Kapitäns und sagten: Setz die Segel und mach alles klar. Dann stellten wir uns vor die Segel und bliesen einen forschen Marsch gegen sie. Potz Heugabel und Dengelstein, das gab einen Zug! Erst glitt die Anna Pauline ganz träge durchs Wasser, dann ging's rascher, und endlich segelten wir unter unserem eigenen Wind fünf Knoten die Stunde. Der Kapitän nannte uns die Retter des Schiffes und gab jedem von uns einen harten Taler und eine Buddel Schnaps. Die anderen Passagiere, die sich tag für Tag hinter den Segeln in unserem Luftzug gekühlt hatten, sammelten in einem Hut für uns. Es waren aber schmutzige Kerle. Sie brachten nur zwei Groschen in Pfennigen und sechs alte Hosenknöpfe zusammen.
Als wir in Melbourne einliefen, engagierte uns sofort der Ire Mac Master. Der stellte eine Kapelle zusammen, die hatte 500 Mann. Als wir im Tivoli zu probieren anfingen, bliesen wir mit solchem Wind, dass er das Dach vom Saal abriss und 30 m forttrug. Kinder, Kinder, die Trümmer hättet ihr sehen müssen!
Die Kapellen ziehen mit Pferd und Wagen durch den australischen Busch und spielen in den Goldgräberkeipen: Was wir hier einnehmen, ist fest und mehr als beim Musikchor Ritzau, San Francisco 1882 Goldgraben. Die letzten Tage haben wir abends geblasen. Dann kommt hier kein Streit zwischen den Diggers auf. Ein anderer Musiker
liess sich am Strand täglich morgens bis zum Unterleib eingraben, um Invalidität vorzutäuschen. Zur Erhöhung der Täuschung legte er leere Hosenbeine, die er an seine Hose genäht hatte, vor sich in den Sand. Mit virtuosem Geigenspiel und Gesang vermochte er die Blicke der Vorübergehenden auf sich zu ziehen; das Mitleid mit dem Krüppel erhöhte die Geldgaben. Nachts tanzte er viel in den Gaststätten, in denen Salzgitterer aufspielten, um die Blutzirkulation wieder anzuregen.
Von Australien aus werden alle Südseegebiete, die von Europäern erschlossen sind, bereist und bespielt. Viele bleiben dort, heiraten sowohl europäische als auch einheimische Mädchen. In China sind die Musiker bei die Europäers tätig; Ernst Koch fährt 1855 - also nur ein Jahr nach der Öffnung Japans - mit einer sechsköpfigen Blaskapelle von den USA nach Japan. 1958 wird Koch in Tientsin von Chinesen ins Innere des Landes entführt und taucht erst nach einem Jahrzehnt wieder auf.

In Indien wird in den Europäersiedlungen und gelegenlich vor einheimischen Fürsten gespielt. Die Überlieferung besagt, dass 1858 die Kapelle Brill in Kalkutta zum erstenmal vor einer Flüsterkate (Kirche) spielt, als der Gottesdienst gerade zu Ende ist. Die Musiker blasen einen Choral: Die aber sagten, wir haben jetzt genug Ernstes gehabt; wir wollen was Lustiges hören. Da spielten sie: Wenn der Hund mit der Wurst um den Eckstein springt. W. Reiger ist Kapellmeister des 18. Bengalischen Infanterie-Regiments in Dinapur (heute Pakistan). Die Kapelle besteht aus 75 Mann, zumeist alte Salzgitteraner Militärmusiker. Der Versuch, auf der Straße zu musizieren, schlägt allerdings fehl:

Bald waren sie in Konflikt mit der organisierten einheimischen Bettlerschaft geraten. Die Bettler hatten diejenigen ihrer Erwerbsgenossen, die mit den ekelhaftesten Hautausschlägen behaftet waren, vor die Wohnhäuser der beiden Chöre postiert. Sie ließen sofort beim Erscheinen der Einwohner ein weithinschallendes Jammergeheul ertönen. Beide Chöre wurden auf dem Gang durch die Straßen von ihnen und ihrem entsetzlichen Geheul solange begleitet, bis sie in ihre Wohnung zurückkehrten. Nach zwei Tagen gab die eine der beiden Kapellen klein bei. Die andere Kapelle verpflichtete sich zu einer Abgabe von 25 Prozent ihrer Einnahme an die Bettlerorganisation. Ungehindert konnten sie daraufhin als Straßenmusikanten auch in einheimischen Wohngebieten tätig sein.

In den 1870ern ist der Höhepunkt des Salzgitteraner Wandermusikantentums erreicht, danach verliert es langsam an Bedeutung. Hannover schlägt sich 1866 auf die falsche Seite, Ferdinand & Anna Flecks, Salzgitter wird annektiert und als Provinz in den preussischen Staatenverbund eingegliedert. Langsam aber sicher kommt die Industrialisierung in Gang. 1865 wird Salzgitter an das Eisenbahnnetz angeschlossen. Zeitgleich mit den besseren Verdienstmöglichkeiten zu Hause kommen in aller Welt ortsansässige Kapellen auf.

Nach der Ermordung des russischen Zaren 1881 folgt eine vierteljährliche Landestrauer inklusive Musizierverbots; in Folge steigen die Poizeikontrollen ins Unerträgliche. Auch in Deutschland darf nicht musiziert werden - im Dreikaiserjahr 1888 durch die Tode Kaiser Wilhelms I. und Kaiser Friedrichs III. In vielen Gaststätten werden Klaviere angeschafft und der Klavierspieler ersetzt die mehrköpfigen Kapellen. 1900 folgt das Grammophon als Konkurrenz, 1925 der Rundfunk.

Nach dem 1. Weltkrieg können sich noch einige Musiker in Salzgitter und der nächsten Umgebung halten. Doch schon zu Beginn der 1920er Jahre muss die Kurkapelle von auswärtigen Musiker gestellt werden. Die letzte Klesmerkapelle, die Familie Flecks, die in den Gaststätten Hasenspring und am Bismarckturm auf dem Hamberg spielt, löst sich 1943 mit dem Tode von Frau Flecks auf. 1959 sterben mit dem 85jährigen Harfenspieler August Söchtig in Salzgitter und kurz zuvor mit dem fast 100jährigen Heinrich Ruppel in New York die beiden letzten aktiven Sölterschen Klesmer.

Heute nennt sich eine söltersche Bigband Die Klesmer und spielt Melodien aus Musical, Schlagerwelt und Jazz. Nur in der Klesmerkate steht in der den Klesmern eigenen Sprache geschrieben:

Kumm in dei Klesmerkate, wenn et fladert.Komm in die Musikantenbude, wenn es regnet.
Na en Kehrkolen, wo der Kehrpahn smasch stechet,  Zu einem Sammeln, bei dem der Herr gut gibt,
Truppelt dei Klesmer geren hen.Geht der Musikant gern hin.
Se lan Fennrich un Kassert un Schamsen smecket,So lange Käse und Speck und Schnaps schmeckt,
Is kein Klesmer noch nich verrecket.Ist kein Musikant noch nicht gestorben.
En doberschen Knüppert in der MulteEine Schnapsflasche in der Tasche
Un keinen Schamsen inne,Und kein Schnaps drin,
Under dünnen Trittling keine Pinne,Unterm dünnen Schuh keinen Schuhnagel,
Werd den Klesmer meis tau Sinne.Dann wird dem Musikanten unangenehm zu Sinnen.
Diu sast ehrlich schampolenDu sollst ehrlich Geld zählen
Un nich dei Multe bedrutten,Und nicht deine Kameraden betrügen,
Süss gitt et Makeile an den Keibes.Sonst gibt es Schläge an den Kopf.

Salzgitter-Bad. Das 7. Klesmerfestival spannte einen weiten musikalischen Bogen von Russland über Spanien bis zur kleinen Insel Réunion bei Madagaskar im Indischen Ozean. Klezmermusik und Weltmusik gaben sich am Wochenende an und in der Kniestedter Kirche ein Stelldichein. Die Gruppe Fialke nahm das Publikum mit auf eine musikalische Reise in das jüdische Osteuropa um 1900. Wenn sich Klarinette und Geige der Gruppe Almanach im klagenden Zusammenspiel vereinten, wurden starke Emotionen wach. Richtig in Stimmung kam das Publikum bei den rasenden Polkas von Chudoba [-> FW#17]. Dass man auch auf Stühlen sitzend tanzen kann, bewiesen die Zuhörer beim feurigen Gipsy Flamenco der Gruppe Lailo. Ganz anders, nicht minder reizvoll, war der folgende Auftritt des Kreolen René Lacaille und seiner Band. Ein Crossover, angeführt vom spannungsgeladenen Akkordeonspiel und solistischem Bläsereinsatz, vereinte auf anspruchsvolle Weise Folklore und Jazz. (Salzgitter-Zeitung)

Alle Zitate aus: Alfred Dieck, Die Wandermusikanten von Salzgitter, Heinz Reise-Verlag, Göttingen 1962.

Die FolkWelt zwischen Harz & Heide (3): Klangwelten und Grenzgänge (FW#28)
Die FolkWelt zwischen Harz & Heide (2): Halloween & Liedermaching (FW#27)
Die FolkWelt zwischen Harz & Heide (1): Kles/zmer schpiln ein scheenes Schpil (FW#26)


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 09/2004

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