FolkWorld #73 11/2020
T😷M's Nachtwache
Achim Reichel, Ich habe das Paradies gesehen: Mein Leben.
Rowohlt Verlag, 2020,
ISBN 978-3-498-00178-0, 415 S, €24,-
Der als Musiker & Storyteller gefeierte Achim Reichel ist seit 60 Jahren auf den Bühnen zuhause.
Nun erinnert er sich an seine illustre Karriere, beginnend im Hamburger Stadtteil St. Pauli.
Seit 50 Jahren wirbelt Ian Anderson als moderner Troubadour und Hofnarr
mit der Querflöte über die Bühnen dieser Welt und präsentiert dem Publikum mit Jethro Tull anspruchsvolle
Rock-Musik. In einer auf hochwertigem Papier gedruckten Edelausgabe werden alle Stationen seiner kreativen Karriere zum
Leben erweckt. Rare Fotos und Abbildungen von Memorabilia illustrieren und ergänzen den auf Interviews mit allen Musikern der Band basierenden Text.
Jethro Tull mit Mark Blake , Die Ballade von Jethro Tull.
Hannibal, 2020, ISBN 978-3-85445-687-2, 224 S, €40,00
Passend zum „Vierzeiler“ 03/2020 rund um die Themen „Wild, Wald & Jägerei“ hat das Steirische Volksliedwerk
ein Liederheft der Reihe "meine Lieder – deine Lieder" zusammengestellt.
Dieses trägt den Titel „Mei Schåtz is a Jaga“ und enthält ein gutes Dutzend Lieder, die nicht schon in einem der beiden Jäger- und
Almlieder-Büchln enthalten sind: „An Bock håb i gschossn“, „Ich bin’s a lustger Jagersknecht“, „Kloani Kugerln giaßn“, ...
Die Lieder sind wie gewohnt zweistimmig gesetzt und mit Gitarrenakkorden versehen. Aus dem Inhalt der Vereinszeitschrift „Der Vierzeiler“
(die nächste Ausgabe blickt auf das 40-jährige Bestehen zurück): Jagd in der Steiermark: Eine Kulturgeschichte,
Du bist Musikant und Jaga? – Oh Maria!, Das Jagdhorn und seine Entstehung, ...
Mei Schåtz is a Jaga. Steirisches Volksliedwerk (meine Lieder – deine Lieder 20/1), 16 S, €2,-
Hubert Achleitner, besser bekannt als Hubert von Goisern, hat seinen Debütroman geschrieben,
in dem er seine Protagonisten auf eine hochemotionale Reise von den österreichischen Bergen bis nach Griechenland und
in ihr Inneres schickt: »Die erste Idee hatte ich vor etwa fünfzehn Jahren. Im Mittelpunkt sollte eine Frau stehen, die
ihren Mann verlässt - ohne Erklärung bei der Tür hinausgeht und nicht mehr wiederkommt.
Sowie ein Mann, der sich auf die Suche nach ihr und nach dem Grund ihres rätselhaften
Verschwindens begibt. Sie sollten beide eine Reise machen und Grenzen überschreiten
müssen.
Der überwiegende Teil unseres Lebens läuft, entsprechend dem Bild, das wir von uns und der
Welt mit herumtragen, auf den Schienen äußerer Notwendigkeiten. Es gibt jedoch immer
wieder Wendepunkte, Wegkreuzungen, Weichenstellungen ... Ob man diese ergreift oder
ignoriert, hängt von der Bereitschaft ab, seiner Intuition zu folgen und sich dem Risiko des
Unbekannten auszusetzen.
Den Wunsch, mich an Belletristik zu versuchen, hatte ich schon lange. Dass es so lange
gedauert hat, ist allein der Musik geschuldet. Immer wieder haben sich musikalische
Abenteuer hinein- und vorgedrängt. Bis ich vor zwei Jahren alle Musikinstrumente
weggeräumt und aus meinem Blickfeld verbannt habe.«
Hubert Achleitner, flüchtig. Paul Zsolnay Verlag, 2020, ISBN 978-3-552-05972-6, 300 S, €23,-
"Von überall her schallt Musik. Hunderte von Gestalten wiegen auf dem Rasen hin und her, gebannt von den Klängen der Dudelsäcke und Drehleiern auf der Bühne.
Keltische Weisen schallen über ihn hinweg und nehmen ihn in ihren Bann. Die Musik trägt ihn zurück in eine Zeit, die es
nie gegeben hat, die er aber in seinem Herzen immer schon gespürt hat. Eine Zeit, als die Welt voller Mythen und Geheimnisse
war, als in den Wäldern nicht nur wilde Tiere, sondern auch flüchtige Elfen und weise Zauberer warteten..." Schreibt Nils Krebber
über das Festival Mediaval am Goldberg in Selb, Europas größtem Mittelalter-Festival.
Wir sind die Bunten ist eine Kurzgeschichtensammlung über das und vom Mediaval, und die
Erzählungen sind eben so farbig wie die Veranstaltung selbst: Eindrücke, die man vorort gewinnen kann, die
ins Fantastische abgleiten, und rein fiktive Fantasy und Mystery. Dazu haben sich eine Anzahl mehr oder minder bekannter Autoren
zusammengefunden, denn: "Wo tausende Recken und Maiden zur Feierey zusammenkommen, um die Lebensweise der Altvorderen
zu pflegen, bin ich gerne dabei! Wein, Weib und Gesang – das hat schon immer Seele und Körper erquickt." (Robert Focken)
Das Mediaval und sein neugieriges, vorurteilsfreies Publikum ist auch ein Höhepunkt der Festival-Saison für
Stefanus Rex (Corvus Corax, Berlinski Beat), Andrea Bannert (Tibetréa) und Drehleierbauer Helmut Gotschy. [69]
Nächste Gelegenheit: Festival-Mediaval XIII, 10.-12. Sep. 2021 in Selb, Oberfranken.
Amandara M. Schulzke (Hrsg.), Wir sind die Bunten - Erlebnisse auf dem Festival-Mediaval.
acabus Verlag, 2020, ISBN 978-3-86282-763-3, 330 S, €16,-
Im Nordwestdeutschen Rundfunk wurde einmal in der Woche
die Sendung «Musik aus Studio B» ausgestrahlt. Moderiert
wurde sie von Chris «Pumpernickel» Howland, der immerhin
die jeweilige Nummer 1 der Single-Charts aus England
und den USA spielte. So wie es für manchen ein heiliges Ritual
war, am Sonntag die Frühmesse aufzusuchen, war es für mich
nicht minder heilige Pflicht, am Mittwochabend dieser Radiosendung
zu lauschen. Das erste Gebet hieß «Tutti Frutti», der
Priester hieß Little Richard, und tiefer konnte Mystik in jenen
Tagen für mich nicht gehen. Seine Botschaft löste in mir wohlige
Glücksschauer aus. Wie konnte das möglich sein? Ging es
dabei wirklich nur um eine italienische Eiscremesorte? Oder
waren es die Beschwörungsformeln eines Schamanen, war er
ein Hypnotiseur oder gar ein Zauberer? Welche geheime Kraft
auch immer dahinterstecken mochte, meine Empfindungen
waren real, und dass sich mir beim Anhören von Little
Richards Musik die spärlich gewachsenen Härchen auf den
Unterarmen aufrichteten, war Beweis genug. Etwas Derartiges
war mir nie zuvor widerfahren, und alles, was ich bis dato
unter Gesang verstanden hatte, wurde von diesem Mann über
den Haufen geworfen. Er war ein Shouter, wie man sie aus
der Gospelmusik kannte; dabei ging es um mehr, als nur den
richtigen Ton zu treffen. Er gestattete es sich, seinen Gefühlen
freien Lauf zu lassen, und ging dabei mit einer Vitalität und
einem rhythmischen Drive zur Sache, dass es mir den Atem
verschlug. Seine Ausdruckspalette reichte vom brüllenden
Stier bis zum schnurrenden Kater; energisch Gehör fordernd,
fauchte und schrie er seine Textfetzen im wütenden Stakkato
über den stampfenden Rhythmus, um im nächsten Moment
aus heiserer Kehle ein flehentliches «Oh my Soul» hervorzustoßen.
Ich war überwältigt. Ein Wunder war geschehen. Schicksal,
Karma oder Kismet ließen mir ein Licht aufgehen, und
obwohl ich blind vor Leidenschaft war, führte es mich in die
richtige Richtung und entließ mich in ein inniges Liebesverhältnis
zum Rock ’n’ Roll.
Achim Reichels Helden wurden Little Richard und Chuck Berry, bei dem einen der Gesang, bei dem anderen das Gitarrenspiel.
1963 wurde im berühmten Star-Club ein Beat-Band-Wettbewerb veranstaltet; Gewinner wurden die Hamburger The Rattles mit ihrem Frontmann Achim Reichel.
Im selben Jahr ging die Band mit Little Richard auf England-Tournee; Teilnehmer dieser Package-Tour waren auch die
Rolling Stones, die zu Beginn der Tour noch Nobodys waren und sich zum Schluss zu fein für den Tourbus fühlten und sich
stattdessen in Limousinen kutschieren ließen.
Allerdings träumte Achim Reichel davon, sich irgendwann von Leitbildern und Erfolgsklugscheißerei verabschieden zu können,
um endlich das kompromisslos eigene Ding in die Welt zu pflanzen. Es war wohl Zufall, dass ihm ein Lied in den Kopf schoss,
dass er zunächst nicht einordnen konnte und ihm keine Ruhe ließ. Es stellte sich heraus, dass es sich um den alten Sea-Shanty "Rolling
Home" handelte. Achim Reichel aber verwandelte den Schunkelwalzer unbewusst in einen Viervierteltakt, als wäre es ein Rocksong.
Jetzt aber, da ich die Erfahrung machen durfte, wie
gut sich ein Shanty mit einem rockenden Gitarren-Groove
aus unserer Zeitrechnung vertrug, hatte ich das beglückende
Gefühl, etwas Vielversprechendes entdeckt zu haben.
Ich stöberte in der Staatsbibliothek nach
Fachliteratur, in Antiquariaten nach Liederbüchern und auf
Flohmärkten nach Schallplatten von Shantychören. Auf mich,
dem aus der Art geschlagenen Spross einer Seefahrerfamilie,
übte dieses Thema eine magische Anziehungskraft aus.
Das Shanty Alb’m wurde ein Erfolg und der Beginn, sich als Sänger und Songschreiber der eigenen Sprache anzunähern.
Später sollte Achim Reichel mit seiner Eigenkomposition "Aloha Heja He" einen kommerziellen Partykracher landen:
Ich bewertete ihn eher als Dreingabe als von größerer
Wichtigkeit. Weil vor Sansibar niemand mit «Aloha» begrüßt
wird und «Matrosen am Mast» (seemännisch für Filzläuse)
so wenig romantisch sind wie Gonorrhö, war mir klar, dass
der Text auf einem eher riskanten Kurs war, der für unser
Saubermann-Radio sicher nicht in Frage kommen würde.
Der nächste Streich:
Nach den Erfolgen meines Shanty-Albums und dem Folgealbum
«Klabautermann» hatte ich den kühnen Plan gefasst,
mich vornehmlich nordischer Lyrik deutscher Dichterfürsten
anzunehmen. Ich fragte mich, ob dafür eine ähnliche Herangehensweise
möglich wäre, wie sie schon bei den alten Shantys
so wunderbar funktioniert hatte.
Während aber die Shantys ihre Melodien mitbrachten,
mussten sie für die Balladentexte erst noch gefunden werden...
Balladentexte, die mir, obwohl von einer klaren, ungekünstelten
Sprache, als Schuljunge unzugänglich geblieben waren,
fingen an zu rocken und zu grooven und bewiesen damit einmal
mehr, dass sie über alle Zeiten erhaben waren.
Als das Album erschien, ich hätte es mir denken können
(wollte ich aber nicht), gab es Kritiker, die Probleme damit
hatten, es fast für Blasphemie hielten. Eine Hamburger Tageszeitung
fragte sogar: «Darf man unseren Dichtern so etwas
antun?» Diese verdammten Schreiberlinge, dachte ich; dafür
freute es mich umso mehr, dass das Regenballade-Album
wenig später mit dem Deutschen Kritikerpreis ausgezeichnet
wurde, der zu jener Zeit noch von Bedeutung war, und sogar
in den Bestenlisten auftauchte. Das Album entwickelte sich
zu einem veritablen Dauerbrenner. Besonders mit «Herr von
Ribbeck» war mir ein wahrer Glücksgriff gelungen; der Song
sollte sich als äußerst radiotauglich herausstellen.
Es erreichten mich fortan immer wieder begeisterte Briefe
von Deutschlehrern, die davon berichteten, dass sie mit den
Gedichten allein bei ihren Schülern nur wenig punkten konnten,
im Zusammenklang mit den fetzigen Rhythmen aber auf
reges Interesse stießen. Und das mir, dem diese alten Balladen
während seiner eigenen Schulzeit auch nur als unliebsame
Übungen zum Auswendiglernen verordnet worden
waren.
Derselbe Mensch sollte sich jetzt darüber freuen dürfen, mit
seinen zu Liedern gewordenen Balladen dem Interesse an
unseren alten Dichtern einen Dienst erwiesen zu haben. Es
freute mich mächtig, dass ich zu einer Sinngebung beigetragen
hatte, die Nina Hagen während einer Backstageplauderei
bei einem Festival einmal als «geilen Dichter- und Denker-
Rock» beschrieb.
Ein anderes originelles Kompliment erreichte mich per
Mail von einer jungen Mutter, die darüber berichtete, was
ihrem Sohn in der Schule widerfahren war. Als dieser als
Hausaufgabe Theodor Fontanes «Herr von Ribbeck zu Ribbeck
im Havelland» auswendig lernen musste, stand er auf
und sagte nur «Kann ich schon!» und ratterte die vier Strophen
herunter, als wäre es die leichteste Übung. Die Mutter
des Juniors bedankte sich allen Ernstes bei mir für die gute
Note, die ihr Kleiner dafür bekommen hatte, und erklärte,
dass meine Platte bei ihnen rauf und runter liefe. Was diese
fabelhafte Story dann perfekt abrundete, war die Frage des
Lehrers: Warum sagte der Junge den Text in einem so merkwürdig
schnellen Rhythmus? Yeah! Rock den Ribbeck.
In den 70er Jahren produzierte Achim Reichel die Gruppe Ougenweide. Er riet, sich von englischen Folkrock-Vorbildern
zu lösen und sich mittelalterlichen Poeten wie Walther von der Vogelweide zuzuwenden.
Er selbst war einem ähnlichen Projekt auf der Spur.
Wenn es dem Esel zu gut geht, wagt er sich aufs Eis; es wurde
mir zu einem besonderen Anliegen, zur Belebung deutscher
Volkslieder beizutragen. Der Puls der Zeit hat einen anderen
Rhythmus angenommen, und in meinem Versuch, heutigen
Hörgewohnheiten gerecht zu werden, wollte ich mich davon
leiten lassen, unserem alten Liedgut mit neuzeitlichen Rhythmen
und Klangmöglichkeiten zu Leibe zu rücken.
Da ich mir nach genauerer Betrachtung
sicher war, dass unsere Volkslieder von ihrer qualitativen
Substanz keinen internationalen Vergleich zu scheuen haben,
erweckte es bei mir auch einen gewissen Sportsgeist.
Das Zusammenspiel regionaler Folklore mit den musikalischen
Ausdrucksformen anderer Völker definiert sich als
Weltmusik, und Weltmusik mit ihrem Anker im Heute schien
mir 2005 interessanter zu sein als die in der Zwischenzeit
etwas fad gewordene Popmusik. Um der weltweiten Gleichmacherei
im Zuge der Globalisierung etwas entgegenzusetzen,
hatten Länder und Regionen längst damit begonnen, sich auf
ihre Eigenständigkeit und Traditionen zu besinnen, sie zu
beleben und dem überregionalen Kulturbetrieb zugänglich
zu machen. Und so kam es, dass bei mir die Erinnerung an
einen Schatz lebendig wurde, der Volkslied heißt.
Das Album "Volxlieder" wurde mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet, mit
dem Deutschen Weltmusikpreis RUTH, und wurde vom Bayerischen Rundfunk zum Album des Jahres gekürt.
Richard Koechli, The Real Chill - Remembering J.J. Cale: Ein traumhafter Ritt durch die Geschichte der laid-back Musik.
2020, 368 S (Gratisbeilage zur CD The Real Chill)
Titel:
Don't Go To Strangers |
Carry On |
I'm Going Down |
Sensitive Kind |
Cajun Moon |
Anyway The Wind Blows |
The Old Man And Me |
These Blues
Achim Reichels Autobiografie Ich habe das Paradies gesehen erzählt die wechselvolle Lebensgeschichte
von einer Kindheit auf St. Pauli über wilde Rockerjahre bis zum Suchen und Finden eines musikalischen Sinn des Lebens.
Mit 75 Jahren ist Achim Reichel angekommen; Hits , Formate und Massenkompatibelität interessieren ihn schon lange nicht mehr.
Mit meiner Musik seit mehr als einem halben Jahrhundert
unterwegs zu sein und dabei immer wieder vor mein Publikum
zu treten, ihm etwas geben zu können und im Gegenzug etwas zurückzubekommen, das mir das schöne Gefühl
beschert, ein sinnvolles Dasein zu führen, war mir eine große
Lust und Freude. Es erfüllt mich mit großer Dankbarkeit und,
ich gebe zu, auch mit einem gewissen Stolz.
Kaum etwas könnte ferner zu Achim Reichel liegen als die laid-back-Musik von John Weldon Cale, genannt J.J. Cale (1938–2013).
Der auch als Tulsa Sound bezeichnete Mix aus Blues, Rockabilly, Country und Jazz wird durchaus unterschiedlich charakterisiert:
Für den eine ist Cale der Mann, welcher der Country-Musik das Grooven beibrachte, für den anderen so was wie ein Soulsänger.
Cale sagte später mal, dass sie damals ganz einfach Blues spielen wollten – aber keine richtigen Bluesmänner waren. Oder so ähnlich, haha. Leon Russell hat den Tulsa Sound mal so definiert: Du spielst einen Country Shuffle gegen einen Jerry Lee Lewis Boogie. Ein entspannter Swing, so was wie das Echo auf Bob Wills’ Nächte im Cain’s Ballroom der Dreissigerjahre – genau das beflügelte die Hillbillys aus Tulsa zur flüssigen Songlyrik. Es war eine perfekte Chance, die Blueseinflüsse aus ihrer Jugendzeit zu verarbeiten, ohne dabei echte Bluesmänner sein zu müssen. Tiefe Grooves, ja, aber sie wollten das nicht pushen, sie wollten sich hineinhängen und davontragen lassen.
Den Eigenbrötler J.J. Cale scheint allerdings ausserhalb eines begrenzten Fankreises kaum jemand zu kennen. Dabei wäre
ohne seinen Gitarrenstil ein Mark Knopfler undenkbar, und viele seiner Lieder wurden von (berühmteren) Rock- und Pop-Musikern gecovert,
Erstes Beispiel: "After Midnight"!
«Im November 1966 kam [die dritte Single] heraus; Slow Motion und auf der Rückseite die legendäre allererste Version von After Midnight.»
«Es war ursprünglich eine Instrumentalnummer; John hatte sie für diese Psychoscheibe geschrieben, die sie gerade am produzieren waren – The Leathercoated Minds, A Trip Down The Sunset Strip.»
Auch diese Single lief ins Leere, bis sie vier Jahre später bei Eric landete.»
«Typisch ist ja, dass Eric Claptons Version von 1970 im Prinzip eine Kopie dieses Originals von 1966 war;
genau im selben Tempo, mit demselben Gitarren-Riff, einfach eine Spur höher gesungen, in einer andern Tonart.»
«Irgendwo habe ich gelesen, was Clapton an dieser Nummer so gefiel: Die Konstruktion von After Midnight sei genial.
Das Stück hat offenbar alles, was es braucht; ein bisschen Country, ein bisschen Blues, ein bisschen Rock.»
«Erst mit dieser Platte machte er sich 1970 auf den Weg als eigenständiger Künstler.
Dank J.J. Cale fand er den Ausweg aus diesem sinnlosen Wettlauf der Rockgitarristen, entdeckte er das Ideal des minimalistischen,
gepflegten und reinen Spiels – wurde er vom Gitarrengott zur Slowhand. Der Erfolg dieser ersten Platte unter seinem Namen war für ihn äusserst wichtig.»
«Genau dieser Song wurde als Single ausgekoppelt. Clapton war damit während zwölf Wochen in den US-Charts, rückte bis auf Platz 18 vor.
In einigen Ländern der Welt schaffte er’s in die Hitlisten, in Kanada sogar auf Platz 10. Wir reden nicht von einem Mega-Hit,
aber von einem beachtlichen Erfolg – und bis heute ist dieser Song neben zwei oder drei andern so was wie eine Eric Clapton-Erkennungsmelodie geblieben.»
«Da war dieser Anruf von Bobby Keys, ‹Clapton spielt deinen Song!› Schliesslich ein paar Wochen später [Audie Ashworths] Anruf.
Er meinte zu John, es sei jetzt wohl Zeit, in die Gänge zu kommen – bei dieser günstigen After Midnight-Wetterlage.
‹Mach ein Album, stell deine besten Songs zusammen›.
John sagte zu ihm, ‹okay, wenn schon, dann aber komplett anders – und vor allem laaaangsamer!› Cale probierte für sich zuhause hundert Versionen aus,
Polka, Reggae, weiss ich was alles. Hat sich gelohnt – plötzlich klang’s nicht nach Clapton. Die Nummer war jetzt cool, abgehangen und sexy.»
Wenn sich schon bei ihm selbst kein Massenerfolg einstellte, so ließ sich dennoch von der Musik leben:
Ein paar jährliche, todsichere Royalty-Schecks, egal, was passiert. Dieses Kissen hatte ihm Clapton genäht, keine Frage.
Cale schrieb aber auch bei anderen Dingen Musikgeschichte: "Call Me The Breeze" beginnt mit dem monotonen Bumm-Tschäk
eines Schlagzeugautomaten der allerersten Generation. Southern Rocker Lynyrd Skynyrd coverten später den Song,
seine zweite Lebensversicherung. An dieser Stelle sei nur noch ein weiteres Cover erwähnt: "Precious Memories"
von Aretha Franklin auf ihrer Live-LP "Amazing Grace".
Der Schweizer Singer-Songwriter-Gitarrist Richard Koechli braut seit drei Jahrzehnten eine Mixtur aus
Rock, Blues, Country und Folk und hat mehrere erfolgreiche Gitarrenbücher verfasst.
Der Schweizer Bluesmusiker Philipp Fankhauser sagt über ihn,
er sei der einzige Roots- & Blues-Typ in der Schweiz, der sich sooo weit zurücklehnen könne, bis es dieses ganz besondere J.J. Cale-Feeling bekäme.
Koechli möchte nun Cales musikhistorische Rolle aufwerten. Dazu hat er die Form eines Romans gewählt,
in dem der junge Musikjournalist Alvin den alten Brian, Cale-Fan mit Haut und Haaren,
über dessen Musik und den Verlauf seiner Karriere interviewt. Dies wird unter das Mikroskop gelegt, Fakten und Mythen analysiert:
«Manchmal sind die Grenzen zwischen Wahrheit und Mythos fliessend. Ist spannender so.
Und Cale, der hat von Anfang seiner Karriere an mit Mythen gerechnet.
Allerdings nicht mit jedem Unsinn, der über ihn geschrieben wurde.»
Das Ganze beginnt tatsächlich laid-back; Song für Song, Ton für Ton, Instrumente, Tricks - Gitarrenfreaks sollten auf ihre Kosten kommen.
Gegen Ende des Werkes wird das Tempo angezogen; so ganz gegen Cales künstlerischen Masterplan.
The Real Chill - Remembering J.J. Cale ist die Gratisbeilage zum gleichnamigen Album, auf dem Koechli ehrfürchtig,
aber nicht stupide zehn ausgewählte Stücke neu interpretiert.
Schlussendlich noch ein Tip für den Novizen, womit man bei J.J. Cale beginnen sollte:
«Für viele Fans ist Troubadour eines seiner perfektesten Alben, was die Einheit und den warmen Sound betrifft.
Die Einheit war mit Sicherheit nicht leicht zu erreichen, denn das Album ist auch stilistisch sehr vielfältig, kaum ein Song gleicht dem anderen.
Dennoch wirkt alles wie aus einem Guss, und es klingt irgendwie moderner, temporeicher und kräftiger als die drei Vorgänger. Da ist Funk drin und sogar Rock,
Cocaine, der grosse Hit, mit dem er Musikgeschichte schrieb.
In Europa die erfolgreichste Platte seiner Karriere, so viel ich weiss; die erste jedenfalls, die es in England in die Charts schaffte,
natürlich auch dank Eric Claptons Cocaine-Hype. Troubadour ist ohne Zweifel ein Meisterwerk, welches J.J. Cale den endgültigen Durchbruch verschaffte.»
«Ursprünglich hatte J.J. Cale diesen Song ja als Jazz-Nummer geplant.
Cocktail Jazz, Swing und so. Doch als Audie ihn fragte, ob er mit dem Song Geld verdienen möchte, wusste John Bescheid. Also machte er daraus einen Rocksong.»
«Wenn ich jemandem eine einzige Platte als Einstiegsdroge empfehlen müsste, wäre es tatsächlich Grasshopper. Weil da alles drin ist,
was J.J. Cale ausmachte, mit einer Vielfalt, für die man wenig später den Begriff Americana erfand.»
Und natürlich darf eine augenzwinkernde Nebenbemerkung hier nicht unerwähnt bleiben:
«Wie bloss könnte man
Hank Shizzoe und Richard Koechli hier unerwähnt lassen? Vielleicht sind es gerade diese beiden Schweizer,
welche am respektvollsten mit J.J. Cales Erbe umgehen. Die Schweiz mit ihrer Lebensart scheint für den laid-back Spirit wie gemacht zu sein.
Shizzoe tönt erdiger als Cale und Knopfler zusammen, und für Koechli scheint der laid-back
Stil geradezu eine Philosophie zu sein. Genau wie Cale schöpft Koechli aus einem grossen Topf nordamerikanischer aber auch keltischer und französischer Traditionen,
die er förmlich in sich aufsaugt. Mit einem Auge blickt er nach vorne, und trotzdem spürt man bei Koechli den Respekt vor der Vergangenheit und eine grosse Liebe
zum Instrument, zur Perfektion. Das ist genau das Wesen der laid-back Musik: Eine Art Pseudo-Entspanntheit, eine Maske der Faulheit, welche höchste Konzentration
und Jahrzehnte harter Arbeit kaschiert.» (Zitat Luc Baranger)
«Auf jeden Fall ist die Schweiz sehr J.J. Cale-freundlich, sagt man. Da soll zum Beispiel auch ein Humorist sein, der Fan von Cale ist und Songs in
diesem Stil schreibt, mit schweizerdeutschen Texten.
Blues Max nennt er sich.»
Auch für mich eine Zeitreise. Vor 30 Jahren hatte ich einmal zwei Cale-LPs als Vinyl auf dem Flohmarkt erstanden, aber
seitdem der Schallplattenspieler eingemottet ist nicht mehr gehört.
Ob es daran lag, dass ich ihn langweilig fand, oder dass sich mein Musikgeschmack in eine andere Richtung entwickelt hat?
Jedenfalls sind Interesse und Neugier wieder geweckt worden.
«Warum bringst du nicht auch mal was von einem, der ihn langweilig findet?» «Weil ich keinen Menschen kenne, der J.J. Cale langweilig findet.»
«Unsinn. Die, die ihn langweilig finden, hören sich seine Platten nicht an.» «Die ignorieren ihn, aber keiner stört sich an ihm. Die meisten kennen ihn sowieso nicht.»
«Perfekt. Weil’s genug gab, die ihn langweilig fanden – hatte er seine Ruhe.» «Dennoch, Gutes soll man weiterverbreiten, deshalb ja auch dieses Buch hier.»
Zuguterletzt machen wir noch einen geographischen Sprung in die ferne Steppe Zentralasiens. Tuva ist eine zur Russischen Föderation gehörende autonome Republik im südlichen Teil Sibiriens, gelegen an der nordwestlichen Grenze der Mongolei.
Tuva ist ein weitgehend unbekanntes Land - außer vielleicht als Heimat des Kehlkopf- und Obertongesangs, insbesonders des international tourenden Ensembles Huun-Huur-Tu.
Terra Incognita Tuva: Eine Reise zu Nomaden, Musikern und Schamanen.
JARO Medien, Past & Present Series, 2020,
ISBN 978- 3-9813509-6-8, 146 S, €35,00 (incl. CD & DVD)
Nach 25 Jahren Zusammenarbeit mit Huun-Huur-Tu bereiste Jaro-Chef Ulrich Balss die Terra Incognita Tuva. Das Ergebnis ist -
nach Lissabon[60]
und New York[67][70]
- das 3. Fotobuch aus der Serie "Past & Present", ein weiteres Gesamtkunstwerk
bestehend aus Fotos und Interviews, Geschichte und Geschichten, Fakten und Mythen. Und natürlich Musik, doch dazu gleich.
Vorher vielleicht noch ein paar Klischees gefällig: Man kennt die vor ein paar Jahren entdeckten Schätze der antiken Skythen, als auch die nomadischen Reiterstämme, die anderthalb Jahrtausende später für Dschingis Khan kämpften.
Tatsächlich singen Huun-Huur-Tu in vielen Liedern von Pferden, aber jenseits von Koppel und Jurte gibt es den wieder auflebenden Schamanismus zu entdecken, den Nationalsport Ringen und die kuriosen dreieckigen Briefmarken während der kurzen Zeit der politischen Unabhängigkeit.
Ethnisch gesehen sind die heutigen Tuviner ein Turkvolk die im 9. Jahrhundert aus Anatolien einwanderten. Oder umgekehrt, deutscher und englischer Text sind nicht immer identisch.
So ist mir auch nicht klar, ob das Denkmal, das den Mittelpunkt Asiens markiert, nun nahe oder mitten in der Hauptstadt Kysyl steht.
Im Mittelpunkt des Buches steht aber die Familiengeschichte von Radik Tyulyush, einem der Musiker von Huun-Huur-Tu, die Ulrich Balss bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zurückverfolgt.
Über Radik Tyulyush hat er folgendes zu erzählen:
Nach Radiks Geburt [1974] sagte der Kinderarzt bereits, dass seine Stimme laut und melodisch sei ...
In den Ferien kam er, der erste Enkel, immer zu seiner Oma und seinem Großvater und lernte das Nomadenleben lieben.
Seine Großeltern brachten ihm die traditionellen Lieder bei, und er begann allein für sich, in der Natur zu singen und einen großen Respekt für seine Umgebung zu entwickeln.
... Mit 14 Jahren begann er Songs und Texte zu schreiben und gründete die Rockgruppe »Üjer« ...
Sein größter Wunsch war, am Musikkonservatorium »Alexei Boktaevich Chirgal-ool« (bekannter tuvinischer Komponist) zu studieren.
Das Studienfach war »National Musikinstrumente«, was auch eine Gesangsausbildung beinhaltete.
... Im Jahr 2000 lud Albert Kuvezin ihn ein, der bekannten Band »Yatka« beizutreten.
... 2006 schloß sich Radik dann Huun-Huur-Tu an und ist bis heute festes Ensemblemitglied.
Das Buch wird ergänzt durch eine Live-Aufnahme von Huun-Huur-Tu aus dem vergangenen Jahr sowie eine deutsche TV-Produktion aus dem Jahr 1996
über Obertongesang und Nomadenkultur, betitelt "Geheimnisse des Chöömej" - der Begriff Chöömej wird mal als Oberbegriff, mal als spezieller Stil benutzt.
Musikproduzent und Journalist Wolfgang Hamm reiste im August 1996 nach Tuva:
Am Ende meiner 1. Tuvareise drückte mir Sascha Bapa eine Kassette mit Aufnahmen seiner 4-köpfigen Musikgruppe in die Hand und mir wurde schlagartig
klar, dass Huun-Huur-Tu auf dem Weg war, die jahrhundertealte Solokunst des Chöömej in eine Ensemblekunst zu verwandeln: Die rhythmische
Akzentuierung des Gesangs durch Perkussionsinstrumente wie Schamanentrommel, Glöckchen, mit Schafsknöchelchen gefüllte Rasseln aus Stierhoden,
Klappern aus Pferdehufen verbindet sich mit alternierenden Gesangssoli in diversen Chöömej-Stilen. Und am Schluß eines Stückes steigerte sich das
Ganze zum Höhepunkt eines wunderbar schwingenden Ensembleklangs aus tiefem Kargyraa, hohem pfeifenartigen Sygyt und fein abgestufter Instrumentalbegleitung
mit der celloartigen Pferdekopfgeige Igil, den Langhalslauten Toshpulur und Tschansy oder der in Flageolett-Technik gestrichenen Bysaanchy. Auch die
Klänge der Maultrommel Chomus, des Jagdhorns Amyrga aus Birkenrinde und eines geheimnisvoll klingenden Holzpropellors, mit dem die Tuviner den Klang
des Windes nachahmen, sorgten für Spannung und Schattierungen. Im abwechslungsreichen Repertoire von Huun-Huur-Tu - ein Name, der an die
vertikale Trennung von Lichtstrahlen über der Steppe kurz nach Sonnenaufgang und kurz vor Sonnenuntergang erinnert - begegnen wir immer wieder ähnlichen
Motiven aus der Welt der Nomaden: Die Liebe zur Natur, zu Vater und Mutter und den nächsten Verwandten, die Liebe zu den vertrauten Tieren, besonders
zu den Pferden, die in der tuvinischen Kultur eine zentrale Rolle spielen, aber auch die Sehnsucht, nach einer langen Reise wieder in der Heimat bei
der Liebsten anzukommen...
Angesichts der Tatsache, dass es kein umfassendes Buch zum Thema Tuva gibt und sowieso derzeit das Reisen außer Frage steht, freue ich mich
über diesen bunten Farbklecks auf dem weißen Fleck unserer geistigen Landkarte.
Huun-Huur-Tu hätte im Herbst das Buch bereits vorstellen sollen, die Shows wurden auf 2021 verlegt. Ein Besuch kann nur empfohlen werden und
das Schlusswort sei Radik Tyulyush überlassen:
Sing. Mit deinem Gesang wird deine Seele freundlicher. Und wenn ein Mensch singt, dann fühlt er Harmonie. Werde besser und freundlicher mit der Musik. Unsere Welt braucht unsere Freundlichkeit.
Photo Credits:
(1ff) Book Covers,
(8) Achim Reichel,
(9) Ian Anderson (Jethro Tull),
(10) JJ Cale,
(11) Hubert von Goisern,
(12) Richard Koechli,
(13) Hank Shizzoe,
(14) Blues Max,
(15) Tibetrea,
(16)-(17) Huun-Huur-Tu (Radik Tyulyush)
(from website/author/publishers).
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