Von Istanbul nach Köln, von Byzanz nach Falkirk, und jedesmal über die Alpen... So sieht eine Lesereise in Zeiten von Corona aus.
Es ist sicherlich nicht verwunderlich, dass in Deutschland zahlreiche Musiker und Musikerinnen aus der Türkei leben. Aber erstmals hat Kirsten Seidlitz in ihrer Dissertation dieses musikalische Schaffen untersucht. Es ist wohl nicht nur für mich nahezu unbekanntes Terrain, weil die fraglichen Künstler nicht expressis verbis die deutsche Öffentlichkeit ansprechen, um nicht zu sagen, an dieser öffentlichen Wahrnehmung sogar dezidiert vorbei musizieren.
Wie der Titel besagt, liegt die Betonung auf Musik AUS der Türkei IN Deutschland. Noch genauer konzentriert sich die Studie auf Musiker, die die Diaspora aufgrund von Konflikten in der Türkei ihrer Heimat vorziehen. Explizit ist das die Musik von Minderheitengruppen, d.h. kurdische Musik als die Musik der größten ethnischen Minderheit, alevitische Musik, die der größten religiösen Minderheit, und linke Protestmusik, der künstlerische Ausdruck der aus ideologischen Gründen unterdrückten Kulturschaffenden.
Kirsten Seidlitz hat zwei Jahre lang Interviews durchgeführt und an zahlreichen musikalischen Veranstaltungen teilgenommen. Aus einem Pool von 1,5 Millionen Menschen in Deutschland mit türkischem Migrationshintergrund (das macht die Bundesrepublik zum viertgrößten Wahlbezirk der Türkei) wurden zehn Künstler über ihre persönliche Geschichte in der Türkei und Deutschland und ihrer Einschätzung der Wechselbeziehung zwischen beiden Ländern befragt. Die Auswahl ist gut gewählt: Darunter befinden sich Hobbymusiker und Berufsmusiker, Musikproduzenten und Veranstalter. Der eine ist im Zuge des Militärputsches 1980 emigriert, die andere nach dem Gezi-Protest im Jahr 2013. Die Gemeinsamkeit ist, dass sie alle mehr oder weniger Volksmusik oder von Volksmusik inspirierte Musik spielen.
Kemal Sahir Gürel war Gründungsmitglied der Studentenband Grup Yorum, die inspiriert von lateinamerikanischen Gruppen wie Inti-Illimani[53] infolge des Militärputsches 1980 entstanden ist und in wechselnden Besetzung bis heute existiert.[73] Grup Yorum rief mit ihrer Musik zu politischen Aktionen auf, was immeer wieder zu Verhaftungen der Bandmitglieder führte. Seine allererste Komposition "Büyü de baban sana" handelt von dem minderjährigen Erdal Eren, den das putschende Militär älter älter gemacht hat, um ihn erhängen zu dürfen.
Kemal Gürel ist heute Inhaber eines Tonstudios in Köln und eine wichtige Figur im Netzwerk der politisch links ausgerichteten Musikszene. Er arbeitet insbesondere mit Kurden, da er diese in Fragen der Weltanschauung als offener einstuft als viele der in Köln lebenden Türken. Er distanziert sich aber, desillusioniert vom politischen Leben. von der heutigen Grup Yorum und will Musik nicht mehr als Mittel für politische Botschaften verwenden, sondern lediglich Gefühle transportieren.
Die Kurden sind mit 30 Millionen Menschen die größte ethnische Gruppierung der Welt ohne einen eigenen Staat. 1,5 Millionen leben als größte staatenlose Diaspora in Europa. Da die ethnische Zusammengehörigkeit weder sprachlich noch religiös begründbar ist, kommt dem kulturellen Bereich eine besondere Bedeutung zu, und ein Großteil der kurdischsprachigen Musikproduktionen ist in der Emigration entstanden.
Der Kölner Singer-Songwriter Mehmet Akbas benennt die Unmöglichkeit der politischen Neutralität: »Als Person, ich bin politisch. Ich bin sehr politisch. Ich bin Kurde! In der Welt, wenn du singst auf Kurdisch, wenn du machst kurdische Musik, sowieso, du bist politisch!« Die in Wien lebende Sängerin Sakîna Teyna[54] ergänzt, in der Türkei aus »vier Gründen, die alle mit dem Buchstaben K beginnen«, diskriminiert worden zu sein: als Kürt (Kurdin), Kızılbaş (Alevitin), Komünist (Kommunistin) und Kadın (Frau).
In Berlin geboren und wohnhaft, ist Adir Jan Tekîn[68] ein kurdischer Singer-Songwriter und Tanbur-Spieler, der einen »Cosmopolitan Kurdesque« spielt. Er ist ein bunter Vogel, der in unterschiedlichen Sprachen u.a. Songs über seine Homosexualität singt, und sich dabei zwischen mehr Stühle setzt, als man überhaupt aufstellen kann.
Zuguterletzt seien hier noch kurz die Aleviten erwähnt, die zweitgrößte muslimische Religionsgemeinschaft der Türkei, die sich in vielerlei Hinsicht von der sunnitischen Mehrheit unterscheiden: die Frauen tragen kein Kopftuch, Männer und Frauen beten nicht getrennt, der Verzehr von Schweinefleisch ist nicht ausdrücklich verboten.
Die Langhalslaute Bağlama symbolisiert den Glauben und wird auch schon mal als Koran mit Saiten (telli kuran) bezeichnet. Ironischerweise waren es gerade die wandernden alevitische Barden mit ihren Bağlamas und ihrer Musik, die nach Umsturz des Osmanischen Reiches zur Grundlage eines neuen türkischen Nationalgefühls gemacht worden sind. Das Instrument darf heute in keiner Produktion arrangierter Volksmusik, Arabesk oder Türk-Pop fehlen.
Um ein Fazit zu ziehen: In Deutschland leben zahlreiche Künstler, die in ihrem Herkunftsland Türkei aus politischen Gründen nicht uneingeschränkt leben und/oder musizieren können. Es besteht eine große Bandbreite, die, wenn man denn will und den Aufwand nicht scheut, auch erlebt werden kann. Musik & politischer Konflikt aus der Türkei kann durchaus als erster Reiseführer dienen.
Um geschickt zum nächsten Thema überzuleiten:
Brian McNeill reiste einst auf den Spuren seiner schottischen Landsleute vom Baltikum bis nach Byzanz (der antike Name für
Istanbul),[40]
vom Tweed bis nach Texas; seine Heimatstadt Falkirk, zwischen Edinburgh und Glasgow gelegen, konnte er jedoch nie verleugnen.
Brian ist ein Künstler, dessen musikalisches Odeuvre, sowohl mit der Battlefield Band als auch solo, ich seit langem verfolge. Immer wieder gelingt ihm ein Geniestreich, nicht zuletzt sein aktuelles Album "No Silence".[72] Ich habe auch ein paar seiner Kriminalgeschichten gelesen, in denen er den umtriebigen Straßenmusiker Alex Fraser ermitteln lässt. Auch wenn diese nicht unbedingt nobelpreis-verdächtig sind, hatte ich mir schon lange vorgenommen, mal wieder eins der Bücher zu lesen.
Ein Wink des Schicksal war es wohl, dass mir seine Kurzgeschichten-Sammlung The Horseman’s Word auf den Tisch flatterte. Sie enthält ein halbes Dutzend Stories: Landwirte kurz vor dem Ersten Weltkrieg, eine Tanzschule in den Fünfzigern; der Koreakrieg-Krüppel Flash Gorton. Es sind Impressionen, die einen Eindruck in das Leben und Treiben in und um Falkirk herum geben. Der eigentliche Held ist die Sprache, und zwar die Mundart und Umgangssprache der Heimatstadt, die aus Brians Blickwinkel so "subtle, succinct, pithy and pungent" (subtil, prägnant, markig und beißend) ist.
Gabriele Haefs und Julian Haefs haben die Geschichten aus dem schottischen Englisch übertragen. Natürlich fehlt der Lokal-Kolorit, der sich nicht so einfach sprachlich wiedergeben lässt. Gottseidank aber wurde der Versuchung nicht nachgegeben, die Protagonisten sächseln oder in einem übertriebenen Slang oder erfundenen Idiom à la Sch'tis brabbeln zu lassen.
Sprachkundigen sei sowieso das ebenfalls im Songdog Verlag erschienene englisch-schottische Original empfohlen.
Den Namen Trailhead gab sich der Berliner Singer-Songwriter Tobias Panwitz, weil ein Großteil seiner Lieder beim Wandern entstehen.
Seine bislang ambitionierteste Tour war unlängst die Überquerung der Alpen von Salzburg nach Triest in 30 Tagen. Dies
wurde zur Grundlage seines neusten Albums "Into the Mountains", in dem er grosso modo mittels schlichter
Folk- und Americana-Songs seine Erlebnisse reflektiert. Als Ergänzung der CD erscheint das Reisetagebuch Über die Alpen, in dem
Tobias Panwitz Schritt für Schritt, Kilometer für Kilometer Frust, Furcht und Freude schildert. Das buch enthält zahlreiche Fotos
sowie die deutschen Übersetzungen aller Songs von "Into The Mountains".
Siehe: »Roadside Folksongs«!
Bei den früheren Veröffentlichungen von Paul Bartsch ist es mir nie so ergangen, aber das aktuelle Album "Alle Fragen offen" (Rezension folgend)
erinnert mich mit allen Ecken und Kanten an Gerhard Gundermann, R.I.P. Nicht weil in meinem Lieblingssong "Bergnot" von der
Seilschaft die Rede ist :-), sondern da ist dieselbe Musikalität, Poesie und auch Geisteshaltung; ein Don Quichotte mit verrosteter Lanze
und einer Vorliebe fürs Drachen erschlagen. Hier enden denn auch die Vergleiche: Halle a.d. Saale statt Oberlausitz, Pädagogik-Lehrstuhl
statt Bagger im Tagebau. Paul Bartsch singt poetisch-philosophische Texte, die sich um das Thema drehen: Wie ist es möglich, Mensch zu bleiben
in dieser irren, irren Zeit? Diesen Liedern kann man zuhören und ernst mit den Kopf nicken, aber:
Ihr eigentliches Leben entfalten sie aber erst, wenn man sie selbst spielt und singt! Folglich hat Paul Bartsch in den beiden
Mitspiel-Lieder-Sammlungen Mensch mir gegenüber und Zirkustigers Perspektiven 81 Texte inklusive Akkorden aus den Jahren
1984 bis 2020 zusammengetragen. Wer beide Büchlein ersteht, erhält obendrein eine mp3-CD mit allen Titeln.
Photo Credits:
(1ff) Brian McNeill,
(8ff) Book Covers, (12) Adir Jan,
(13) Rainer Mafra,
(14) Paul Bartsch
(from website/author/publishers).