FolkWorld #79 11/2022
© Jürgen Kiontke/ amnesty international

FolkWorld 25th Anniversary 1997-2022

Lieder aus der fremden Heimat

Regisseur Cem Kaja hat mit "Liebe, D-Mark und Tod" eine spektakuläre Musikdokumentation über 60 Jahre türkischer Migration gedreht.

Derdiyoklar Ali

Wenn es einen besonderen Star gibt unter den vielen Stars in Cem Kayas rasanter Musikdokumentation "Aşk, Mark ve Ölüm" – zu deutsch: Liebe, D-Mark und Tod –, dann ist es wohl Derdiyoklar Ali. Per Kamera sind wir mitten in einem seiner wilden Konzerte. Seine E-Gitarre trägt er lässig wie Frank Zappa, zieht, schleift sie über die Bühne, spielt mal auf dem Boden, mal hinter den Ohren … Ein explosives Gitarrensolo jagt das andere; locker eingestreut die Gesangsfetzen auf Türkisch, Kurdisch und Arabisch.

Nicht minder eindrucksvoll, aber von völlig anderer Basis, dem Schlager, aus­gehend, ist der Gesang Yüksel Özkasaps, unter Türk*innen in Deutschland als "Nachtigall von Köln" bekannt, unter Deutschen, wie Gitarrist Ali auch, gar nicht. Dabei hat Özkasap goldene Schallplatten gesammelt – und das, obwohl der Großteil ihrer Arbeit auf Kassetten in türkischen Supermärkten über den Tresen ging. Asyk Metin Türköz? Veröffentlichte über 70 Singles! Ismet Topcu? Psychedelik-Meister auf der Langhalslaute Saz!

Sie alle begannen in den späten 1960er Jahren mit Karrieren, die dem offiziellen Musikbetrieb verborgen blieben. Wie rund 3.000 anderen Künstler*innen ist ihnen gemein, dass sie als "Gastarbeiter*innen" nach Deutschland kamen, in Autowerken und weiteren Industriebetrieben am Band standen, bis sich eine andere Zukunft auftat.

Metin Türköz

Die türkischen Musiker*innen traten zunächst recht bieder auf Hochzeiten auf, trauten sich mit dem Aufkommen der Rockmusik aber bald mehr zu. Ein neuer Stil entstand: "Gurbetçi-Lieder", Lieder aus der Fremde; eine originär in Deutschland gespielte Musik, deren Texte meist von den Härten der Migration, von Rassismus, Heimweh und Arbeitsalltag ("Statt Fleisch und Knochen habe ich nur noch Sägemehl im Körper") reichte.

Und im Herkunftsland Türkei? Zu Zeiten der Militärdiktatur wurden die Werke der Künstler*innen von Geheimdienst und Polizei als Protestform eingestuft – mit durchaus ernsten Folgen, wenn sie auf Familienbesuch kamen und im Gefängnis landeten.

Aber der Film bleibt nicht in der Vergangenheit stehen. Mit der Wiedervereinigung erlebte die Musik mit türkischen Wurzeln in Deutschland abermals einen Politisierungsschub, dem sich auch der einfache Hochzeitssänger nicht entziehen konnte – vor dem Hintergrund rassistischer Anschläge wie jenem in Solingen 1993, bei dem fünf Menschen starben. Musik und Texte wurden härter und ­direkter. Und so gibt der Film auch einen Ausblick auf die Gegenwart und die heu­tigen Protagonist*innen.

"Liebe, D-Mark und Tod" setzt diesen vielfältigen Musikformen ein Denkmal, lässt das Publikum eintauchen in eine unbekannte Kultur direkt um die Ecke. Wie Ali sind die Protagonist*innen im Interview schlagfertig, politisch bewusst, nehmen souverän Stellung zu ihrer Migrationsgeschichte, die mit Archivmaterial, Ausschnitten aus TV-Dokumentationen und privaten Konzertaufnahmen zu turbulenten Sequenzen montiert ist. Ein Meisterwerk filmischer Geschichtsschreibung, das einen bisher verborgenen, authentischen Musikschatz zugänglich macht.


amnesty international


Jürgen Kiontke ist freier Autor, Journalist und Filmkritiker. . Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung dem (Amnesty Journal 2022) entnommen.

"Aşk, Mark ve Ölüm – Liebe, D-Mark und Tod". D 2022. Regie: Cem Kaya. Kinostart: 29. September 2022.


Photo Credits: (1) Derdiyoklar Ali, (1) Metin Türköz, (3) amnesty international (unknown/website).


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