FolkWorld Fiction von Tom Keller

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Eine Kriminalgeschichte Teil 3

Ein cholerischer Wirtschaftsboss mit einem Eispickel im Gehirn, ein korrupter Gewerkschafts- funktionär mit einem Kissen im Gesicht - und zwei eigentümliche Verse am jeweiligen Tatort! Hippie kratzte sich nachdenklich den Bart. »Das Blutgericht, na klar.« »Blutgericht? Kann man das essen? Ist das eine Vorspeise für Death-Metal-Gitarristen?« »Das ›Blutgericht‹ ist ein Protestsong aus dem schlesischen Weberaufstand des Jahres 1844. Du solltest mal einen Blick in den ›Großen Steinitz‹ werfen.«

»Im Gegensatz zu dir habe ich in der Schule aufgepasst.« Hippie rückte die Nickelbrille zurecht. Ich überlegte, wann Achtzehnhundertsoundsoviel im Geschichtsunterricht durchgenommen worden war. In der zehnten Klasse war ich zumeist geistig oder körperlich abwesend gewesen. Damals begeisterte ich mich im Biologieunterricht gerade mal für Anatomie und in Physik für die Anziehungskraft zweier Körper zueinander.
    Egal. Um historische Wissenslücken zu füllen, hatte ich Hippie.
    Also sprach er: die Zeitspanne zwischen 1815 und 1848 wird als ›Biedermeier‹ bezeichnet. [12] Nach den Napoleonischen Kriegen wurde die alte Ordnung restauriert und alle Emanzipationsbestrebungen unterdrückt. Die Wunschvorstellung der Obrigkeit war ein genügsamer, entpolitisierter Kleinbürger. Und viele Menschen sehnten sich tatsächlich nach Ruhe und Ordnung, privatem Glück und innerem Frieden.
    »Stell dir das mal so wie in der Werbung für Bausparverträge vor.« Hippies Stimme ging eine Oktave hinauf. »Wenn ich groß bin, Papi, will ich auch so ein Spießer werden.«
    Er schlug einen Kunstband auf. Die Bilder aus den dreißiger und vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts zeigten zufriedene Menschen. Spitzwegs hungerleidender Poet findet sich recht gut mit seiner Misere ab. Wenn der Regen in die gute Stube tropft, spannt er eben einen Schirm über dem Bett auf. [13]
    Die Biederlichkeit erfuhr allerdings Erschütterungen an allen Fronten: Industrialisierung, Urbanisierung, Arbeitsdruck und Verelendung. Manch einer ist schnell dahinter gekommen, dass die deutschen Fürsten nicht zum Kampf gegen Napoleon aufgerufen hatten, um das Land zu verteidigen. Es sollte vielmehr verhütet werden, dass sich die Gedanken der Französischen Revolution ausbreiten. »Ein auch dir bekanntes Schlagwort: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit.«
    Die Märzrevolution von 1848 fegte alle Beschaulichkeit mit einem Schlag hinweg. Die studentischen Revoluzzer schwärmten für Demokratie, Meinungsfreiheit und freie Liebe. Den Arbeitern und Tagelöhnern hingegen ging es nicht so sehr um abstrakte Bürgerrechte, sondern um die konkrete Verbesserung ihrer materiellen Lebensverhältnisse.
    Ich biss beherzt in einen Apfel, dass der Saft spritzte. Hippie kam zum Kern der Sache.
    Vier Jahre vor der europaweiten Revolution, im Jahr 1844, begehrten die schlesischen Textilweber gegen ihre schlechte Entlöhnung und die katastrophalen Lebensbedingungen auf. Im Dorf Peterswaldau verwüstete ein hungernder Mob die Häuser und Fabriken der Textilkaufleute Zwanziger und Fellmann. Nach diesem Anfangserfolg breitete sich der Aufstand aus. Im Nachbarort Langenbielau jedoch wurden die Handwerker vom dortigen Fabrikanten Dierig und dem herbeigerufenen Militär erwartet. Preußische Grenadiere veranstalteten unter den Webern ein blutiges Gemetzel.
    Hippie berichtete ausführlich und mit viel Liebe zum Detail. »Übrigens, letztgenanntes Textilunternehmen hat mittlerweile seinen Sitz in Augsburg und begeht in diesem Jahr sein zweihundertjähriges Jubiläum.« [14]
    »Die kommen immer wieder«, sagte ich. »Oder setzen sich mit ihrem fetten Arsch drauf. Und meistens ist es schlimmer als zuvor.«
    Hippie blickte gedankenverloren ins Leere. Ich war mir nicht sicher, ob ihm jetzt die Vormärzzeit oder Erinnerungen an 1968 durch den Kopf gingen. Die große Zeit. Hippies große Zeit. Ab in die benachbarte Provinzhauptstadt. Besetzte Häuser, Kommune, Summer of Love.
    Bereits 1830 hatte es dort einen richtigen Volksaufstand gegeben. Der unbeliebte Herzog wurde ins Exil getrieben, das herzogliche Stadtschloss wurde abgefackelt. Hippie trug einen frechen Volksvers vor.

Der Herzog Karl, der ist auch fortgejagt;
Er hat ja Land und Leute lang hart genug geplagt.
Da stand viel Volk, das schrie: Fort mit dem Herzog, fort!
Wir brauchen kein’ Tyrannen mit seiner Hure dort!
Die Steine wütig flogen, es gab ein großen Alarm;
Der Herzog floh zum Schlosse, es ward ihm schwul und warm.
Das Schloss ging auf in Flammen, man dacht' er wär noch dort
Und drinnen mit der Liebsten – die aber war'n schon fort.
»Ist es nicht eine große Ironie, dass das Schloss nun wieder aus Ruinen aufersteht? Allerdings nur als Fassade für eine Shopping-Mall.« Ja, Hippie, so sind eben die Zeiten. [15]

Die studentischen Revoluzzer schwärmten für Demokratie, Meinungsfreiheit und freie Liebe. Den Arbeitern und Tagelöhnern hingegen ging es nicht so sehr um abstrakte Bürgerrechte, sondern um die konkrete Verbesserung ihrer materiellen Lebensverhältnisse. [Friedrich Zelnik, Die Weber, 1927]

VII

Der Tee schmeckte rauchig und kräftig. Und so bitter wie die Geschichts- lektion, die Hippie mir erteilt hatte.
    »Gebracht hat die ganze Chose mal wieder nix, was?«
    »Kann man so nicht sagen«, entgegnete Hippie. »Nach der Revolution ist vor der Revolution. Ohne 1844 und 1848 kein Marx und kein Lassalle. Ohne Marx und Lassalle kein Lenin und kein Brandt. Alle zukunfts- weisenden Ideen der letzten hundertfünfzig Jahre beruhen auf dem Gedankengut, das zur Märzrevolution geführt hat. Ideen können nicht erschossen werden.«
    Er verschwand im vorderen Raum und kam mit einem abgegriffenen Wälzer zurück: der ›Große Steinitz‹ oder ›Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten‹. Ich schlug das Buch auf und fand nach kurzer Suche das Lied der Lieder. Das ›Blutgericht‹ eröffnete die Hauptgruppe III: ›Lieder der ausgebeuteten und kämpfenden Arbeiter‹. [16]

Deutsches Zentralarchiv in der Deutschen Demokratischen Republik, Zweigstelle Merseburg (Ehem. Preußisches Geheimes Staatsarchiv). Aktenband Rep. 77 Tit. 507 Nr. 6, vol. 2, fol. 87-89. Die Überschrift lautet: »Das Blutgericht zu Peterswaldau, gefunden den 25. Mai 1844.« Darunter steht: »So war es auch gewiß.« Das Gedicht ist als Anlage einem in Abschrift im Zentralarchiv befindlichen »Generalbericht betreffend die Unruhen der Kattunweber in den Kreisen Reichenbach, Schweidnitz und Waldenburg« (datiert: Breslau, den 18. Juli 1844) beigeheftet. Der auf das Gedicht bezügliche Abschnitt des Berichtes lautet: »Am Abende des 3ten Juni zogen ungefähr 20 Personen bei den Gebäuden der Kaufleute Zwanziger vorbei und sangen ein Spottlied auf die genannten Kaufleute; es entstand hierdurch Lärm und der Gerichtsmann Wagner verhaftete einen Theilnehmer, den Webergesellen Wilhelm Maeder und brachte ihn in das Polizeigefängnis. Das abgesungene Gedicht wurde ebenfalls ergriffen. Eine Abschrift desselben lege ich gehorsamst bei.«
Hippie brachte eine frisch aufgekochte Tasse Tee.
    »Hauptmann.«
    »Tom genügt.«
    »Hauptmann! Gerhart Hauptmann! Schlesischer Dramatiker und Literaturnobelpreisträger. Ich wage zu behaupten, sein Drama über die Weber ist das wichtigste Theaterstück über Not und Elend in der Vorzeit der Industrialisierung. Aufgeführt werden durfte das Stück nur im Deutschen Theater in Berlin. Die Begründung lautete: hier seien die Plätze so teuer, dass es nur von Gesellschaftskreisen besucht werde, die nicht zur Störung der öffentlichen Ordnung neigten. Kaiser Wilhelm II. kündigte dennoch seine Loge.« [17]
    »Ist das jetzt wichtig?«
    »Bildung, Tom, hat noch niemandem geschadet. Ich möchte auch Heinrich Heine nicht unerwähnt lassen, der durch unser heimisches Mittelgebirge gewandert ist und es in Reimen verewigt hat. Heine hat ebenfalls ein Weberlied geschrieben.«
Im düstern Auge keine Träne,
Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:
Deutschland, wir weben dein Leichentuch,
Wir weben hinein den dreifachen Fluch,
Wir weben, wir weben! [18]
Hippie summte eine schräge Melodie. Ich befürchtete schon, er würde gleich in seinem Schlabberpulli mit einer Graffitidose oder einer Kalaschnikow bewaffnet auf die Straße stürmen.
    Ich nahm einen Schluck Tee zu mir. Hippie hatte eine Tasse seines guten First-Flush-Darjeelings spendiert und das liebliche Aroma war eine willkommene Abwechslung. Man kann sagen, was man will, an den Südhängen des Himalaya wird eben doch der edelste Tee der Welt angebaut.
    Ich las weiter. Steinitz fährt fort:
Die Rolle des »Weberliedes« bei der Auslösung des Weber- aufstandes ist von Gerhart Hauptmann in den »Webern« meisterhaft gestaltet worden. Im 3. Akt läßt der Polizeiverwalter durch den Gendarmen den Webern im Wirtshaus mitteilen, dass das Singen des Liedes verboten ist. Da bricht es los. »Garnischt hat a uns zu verbieten!« Der Aufstand beginnt.
    Es ist also nur zu wohl verständlich, wie sehr der über den elementaren Weberaufstand erschrockenen preußischen Reaktion daran gelegen sein mußte, den Verfasser dieses zündenden Liedes zu ermitteln. Ebenso hat man auch nach dem Bauernkrieg nach den Verfassern der revolutionären Lieder geforscht.
    Der Lehrer und Volksliedforscher Wilhelm Schremmer, der dieses Lied 1909 im Eulengebirge aus dem Volksmund aufzeichnete, schreibt zu dem Weberlied u.a: »Es wurde nach dem Aufstande mit allen Mitteln unterdrückt, aber es lebte weiter. Im Jahre 1909 zeichnete ich es zuerst nach dem zitternden Gesange eines alten Maurers auf, der den Hungeraufstand mit erlebt hatte. Er bewahrte noch alle 24 Strophen treu im Gedächtnis. Auf Bruchstücke des Liedes war ich schon vordem gestoßen. Nachdem der Aufstand erdrückt worden war, fahndete man eifrig nach dem Dichter des Liedes. Man hatte den ›Trompeter im Grunde‹ (Friedrichsgrund) im Verdacht, der damals weit und breit als Allerweltskünstler berühmt war. Er versteht das Trompetenblasen, spielt zu Tanz-, zu Hochzeitsmusiken auf, okuliert, kopuliert, dichtet, deklamiert, verschneidet Bäume und Haare, setzt Uhren in Gang, stellt Ehrenpforten und Denkmäler auf, malt Schilder! Solche Köpfe sind im Volke nicht selten. Seine Wohnung wird genau untersucht, selbst in der Ofenröhre spürt man herum. Aber man kann dem guten Manne nichts nachweisen. Am Abend dieses Tages bläst der Trompeter durch die winkligen Dorfgassen und Kletterstege das Lied:
Üb’ immer Treu und Redlichkeit
Bis an dein kühles Grab …
Der Volksdichter blieb unentdeckt. Das Lied ist auch 1848 gesungen worden; es lebte immer wieder auf, wenn Unrecht, Not, Groll die Masse packten! Noch heute kann man erleben, daß in Augenblicken der Erregung auf einzelne Strophen des Liedes zurückgegriffen wird. Seine schnelle Verbreitung hat das Lied gewiß der packenden und die Massen erregenden Weise mit zu danken.« (Mitteilungen der Schles. Gesellschaft f. Volksk., Bd. 20, 1918, S. 210-214.)
Tee regt an, aber nicht auf. Die Teine begannen auf mein Gehirn und Zentralnervensystem zu wirken. Das Lied der aufständischen Weber von 1844, das ›Blutgericht‹, begann:
Hier im Ort ist ein Gericht,
Viel schlimmer als die Vehme,
Wo man nicht erst ein Urtheil spricht,
Das Leben schnell zu nehmen.

Hier wird der Mensch langsam gequält,
Hier ist die Folterkammer,
Hier werden Seufzer viel gezählt
als Zeuge von dem Jammer.
Eigentümliche Verse. Wenn ich in der vergangenen Stunde nicht den historischen Hintergrund kennen gelernt hätte, hätte ich auf dem Schlauch gestanden. Es kam die dritte Strophe, die ich bereits seit anderthalb Tagen kannte.
Die Herren Zwanziger die Henker sind,
Die Diener ihre Schergen,
Davon ein jeder tapfer schindt,
Anstatt was zu verbergen.
Ein paar Strophen weiter unten kam Feldmann, beziehungsweise Fellmann, an die Reihe.
Der Reihe nach folgt Fellmann jetzt,
Ganz frech ohn' alle Bande,
Bei ihm ist auch herabgesetzt
Das Lohn zur wahren Schande.
Was die schlesischen Weber ihren Peinigern vorzuwerfen hatten, ließ sich direkt aus dem Lied herauslesen. Die schlichten und schmucklosen Verse standen im Gegensatz zu der Prunksucht ihrer Herren.
Ihr Schurken all, ihr Satansbrut,
Ihr höllischen Dämone,
Ihr freßt den Armen Hab und Gut,
Und Fluch wird euch zum Lohne.

Ihr seyd die Quelle aller Noth,
Die hier den Armen drücket,
Ihr seyd's, die ihm das trockne Brot
Noch vor dem Mund wegrücket.

Was kümmerts euch, ob arme Leut
Kartoffeln satt könn'n essen,
Wenn ihr nur könnt zu jeder Zeit
Den besten Braten fressen.
Die folgenden Zeilen waren quasi eine idealtypische Beschreibung der Not leidenden Handwerker. Bittend und bettelnd traten sie ihren Kaufleuten gegenüber.
Kömmt nun ein armer Weber an,
Die Arbeit wird besehen,
Findt sich der kleinste Fehler dran,
So ist's um euch geschehen.

Erhält er dann den kargen Lohn,
Wird ihm noch abgezogen,
Zeigt ihm die Thür, und Spott und Hohn
Kommt ihm noch nachgeflogen.

Hier hilft kein Bitten und kein Flehn,
Umsonst ist alles Klagen,
Gefällt's euch nicht, so könnt ihr gehn,
Am Hungertuche nagen.

Nun denke man sich diese Noth
und Elend solcher Armen,
Zu Hause oft kein Bissen Brodt,
Ist das nicht zum Erbarmen?

Erbarmen, ha! ein schön Gefühl,
Euch Kannibalen fremde,
Und jedes kennt schon euer Ziel,
Der Armen Haut und Hemde.
Das Weberlied schloss mit einer unverhohlenen Drohung:
O, Euer Geld und euer Gut,
Das wird dereinst vergehen
Wie Butter an der Sonne Gluth,
Wie wird's dann um euch stehen.

Wenn ihr dereinst nach dieser Zeit,
Nach diesem Freudenleben,
Dort, dort in jener Ewigkeit
Sollt Rechenschaft abgeben.
Nein, die Weber hatten nicht erst die Gerechtigkeit und Herrlichkeit Gottes abgewartet. Sie nahmen es erst mit Zwanziger auf. Nach Zwanziger kam Fellmann dran. Wort für Wort. Satz für Satz. Dann bricht der Text ab. So jäh, wie die Gewehre des preußischen Militärs den Aufstand beendet hatten.
    Ich sah nach, ob noch weitere Namen genannt wurden. Das war in der Tat der Fall.
Die Gebrüder Hoferichter hier,
Was soll ich von in'n sagen,
Geschindet wird hier nach Willkühr,
Dem Reichthum nachzujagen.
Und:
Herr Kamlot, Langer genannt,
Der wird dabei nicht fehlen.
Einem jeden ist es wohl bekannt:
Viel Lohn mag er nicht zählen.
Hoferichter und Kamlot. Zwanziger war tot. Feldmann ebenfalls. Der Mörder folgte offensichtlich der Spur des Dichters. Was ist mit Hoferichter und Kamlot? Standen noch zwei Morde aus? Ich schüttelte mich.
    Sie haben vielleicht wegen Hansi Hinterpfotzig und den Lästigen Musikanten aus dem Dilettantenstadl gedacht, dass Volksmusik todlangweilig sei. Denkste! Es ist schlimmer: Volksmusik ist im wahrsten Sinne des Wortes tödlich!

»Am Abende des 3ten Juni zogen ungefähr 20 Personen bei den Gebäuden der Kaufleute Zwanziger vorbei und sangen ein Spottlied auf die genannten Kaufleute; es entstand hierdurch Lärm und der Gerichtsmann Wagner verhaftete einen Theilnehmer, den Webergesellen Wilhelm Maeder und brachte ihn in das Polizeigefängnis. Das abgesungene Gedicht wurde ebenfalls ergriffen.«

VIII

Ich beschloss, mir zunächst einmal ein paar Hörproben des Weberliedes zu beschaffen. Im Laden an der Ecke, Medien-Shop heißt es jetzt wohl, hatte ich keinen Erfolg. Das Special-Interest-Programm war schon lange nicht mehr auf Lager. Aber heutzutage gibt es ja glücklicherweise das Internet.
    Ich suchte das Internetcafé auf der anderen Straßenseite auf und googelte zügig über die Datenautobahn (sofern der unzulängliche Fernsprechanschluss nicht gerade für einen Stau sorgte). Ich brauchte nicht weit zu fahren, um fündig zu werden. Nach kurzer Zeit hatte ich eine Bestellung klargemacht.
    Eine Weile recherchierte ich noch im Netz und surfte durch die Informationsfluten. Ich fand Berichte und Aufsätze über den Weberaufstand und die Märzrevolution. Das Weberlied in den verschiedensten Variationen. Die Website des Textilunternehmens Dierig. Dazu Bilder über Bilder: Nostalgische Postkarten aus Langenbielau. Die in Schlesien stationierten Regimenter mit ihren Uniformen, Waffen und Standarten. Schwarzweißfotos von Professor Wolfgang Steinitz. Die Malerin Käthe Kollwitz hatte einen Grafikzyklus zu Hauptmanns Theaterstück geschaffen. Er zeigt die von Not und Elend gepeinigten Handwerker und wie sie sich zusammenrotten und gegen ihre Herren ziehen. [
19] Kollwitz, Hauptmann, Heine. Nach ihnen waren Straßen auch in unserer Stadt benannt.
    Ein Carl Wilhelm Hübner wurde durch das Weberelend zu einem quadratmetergroßen Gemälde angeregt, auf dem die Heimarbeiter ihr Tuch zum Fabrikanten bringen. Der Kaufmann mit Schmerbauch und Pinscher verweigert den verdienten Lohn. Ihm genügt nicht die Qualität des Produktes. Ein Familienvater, dessen Frau in Ohnmacht gefallen ist, versucht ihn zu beschwören. Vergebens.

Ein Carl Wilhelm Hübner [Die schlesischen Weber, 1846] wurde durch das Weberelend zu einem quadratmetergroßen Gemälde angeregt, auf dem die Heimarbeiter ihr Tuch zum Fabrikanten bringen. Der Kaufmann mit Schmerbauch und Pinscher verweigert den verdienten Lohn.

Endlich wurde es Abend. Ich duschte und rasierte mich und begab mich rätselnd vor meinen Kleiderschrank. Besser gesagt vor die Stange, die an zwei Ketten von der Decke baumelte und mir den Kleiderschrank ersetzte. Ich entschied mich für das hellbraune Cord-Jackett mit den aufgenähten Ellbogenschonern. In dem Jackett sah ich aus wie den Siebziger Jahren entsprungen. Jedenfalls sahen so die Leute auf den Fotografien aus meiner Kindheit aus. Aber seriöser kann ich nicht. Dann warf ich meinen Fischen ein paar Krebse und Würmer als Mahlzeit ein und machte mich zu Fuß auf den Weg.
    Die Casa Rustica ist der Nobel-Italiener in unserer Stadt. Mit diesem befremdlichen Preis-Leistungs-Verhältnis, wo ich mir nie sicher bin, ob nicht der Schutzgeldzuschlag bereits eingeschlossen ist. Wenn ein Lokal schon fast wie Cosa Nostra klingt, erwarte ich nicht nur kriminelle Preise. Nichts gegen Italiener. Schon gar nichts gegen italienische Küche. Ich hasse nur die spitzen Blicke dieser Messerstecher, wenn ich mir zur Espresso-Zeit einen Cappuccino bestelle.
    Frau Van Aken und ich trafen zur selben Zeit vor dem Ristorante ein. »Danke, dass wir uns treffen können«, begrüßte sie mich. »Das erspart mir eine langweilige Gartenparty.«
    »Keine Ursache. Im Gegenteil, es ist mir ein Vergnügen.«
    Sie trug ein elegantes, aber unaufdringliches Kostüm in Marineblau, das ihre Taille betonte. Dazu eine weiße Bluse. Kein Schmuck, keine Ringe, einzig eine schmale Armbanduhr. Und sie hatte nur dezentes Make-up und Parfüm aufgelegt, wie ich angenehm überrascht feststellte. Sie wirkte entspannt.
    »Ciao, Anna.« Eine salbungsvolle Stimme riss mich aus meinen Gedanken.
    Der alte Gauner Emiliano deutete bei Frau Van Aken einen Handkuss an und geleitete uns persönlich an einen Tisch. Beste Lage. Ein Ecktischchen mit einem blütenreinen Tischtuch und einer Kerze in einer bauchigen Strohflasche Chianti. An den Wänden hing ein italienischer Meister neben dem anderen. Botticelli, Giorgione, Tizian, und so weiter. Keine Originale, aber sie waren dennoch eindrucksvoll. Echt hingegen waren die geschwungene Unterschrift Benedettos auf dem Papstbild und der Wimpel von AC Firenze hinter der Theke.
    Emiliano entzündete den Kerzendocht und scharwenzelte um uns herum. Was ein untrügliches Zeichen für den Stellenwert von Frau Van Aken war.
    »Come stai, cara mia?« Fehlte nur noch, dass der alte Schleimer sich nach Mama und Papa und Bambini erkundigte.
    »Buona sera, Signore.« Emiliano zog seine rechte Hand unter dem Kinn entlang und musterte mich mit gottgleicher Herablassung. Als ob ich in Jogginghose und Birkenstocksandalen sein edles Etablissement betreten hätte.
    Mit seiner vorspringenden Nase machte Emiliano den Eindruck eines Raubvogels. Er konnte kaum über die Tischkante hinwegschauen, aber mangelnde Körpergröße hatte schon Napoleon nicht davon abgehalten, quer durch Europa zu marschieren. Es ist mir immer schon schleierhaft gewesen, wieso es die Südländer ausgerechnet in den kalten Norden zog. Bonaparte nach Moskau, Emiliano nach Bassa Sassonia.
    »Avanti, avanti!« Emiliano klatschte in die Hände und ließ seinen Oberkellner mit zwei Gläsern und einer Flasche Vino Rosso antraben. »Attenzione, Anna. Bolgheri Sassicaia, anno 1998, aus den süßen Hügeln der Toskana. Die Familie Incisa della Rocchetta pflanzt unterhalb des Castello von Castiglioncello einen original Bordeaux aus bella Italia.«
    Komm auf den Punkt, Junge!
    »Fünfundachtzig Prozent Cabernet Sauvignon, fünfzehn Prozent Cabernet Franc. Das ist una grande differenza zu Sangiovese oder Nebbiolo. « Er schenkte ein. »Kosten Sie, Anna, kosten Sie!«
    Frau Van Aken probierte einen Schluck und hob zustimmend die Augenbrauen. »Ah, che bello. Kräftig und fruchtig. Schwarze Johannisbeere oder Sauerkirsche mit einem Hauch Bitterschokolade würde ich sagen. Sie haben nicht zu viel versprochen, Emiliano.«
    »Ein guter Vino muss sich nicht verstecken. Nur uno ist besser als ein Glas di Sassicaia«, sagte Emiliano. Und das wäre? »Una forte quantita di Sassicaia.« Er schnippte mit dem Finger. »Auf Kosten des Hauses, prego. Denominazione d’origine controlata, Signora … e Signore.«
    »Davon bin ich überzeugt.« Ich musste auch mal wieder etwas sagen.
    Unter uns gesagt, ich war mächtig beeindruckt. Es war wirklich höchste Zeit gewesen, den Auftraggeber zu wechseln.

Nach ein paar weiteren Floskeln gingen wir zum Vorspiel über, schmack- haftem Parmaschinken mit Honigmelone. Im Hintergrund liefen canzonetta sentimentale vom Band und überdeckten dezent Essgeräusche und Konversation.
    Dr. Van Aken begann ohne Umschweife mit der Inquisition. »Ich habe Ihre Akte gelesen.«
    »Ich wusste nicht mal, dass ich eine habe.«
    »Sie haben Ihr Studium abgebrochen. Warum?«
    »Sagen wir mal, ich versuche mein Leben möglichst stressfrei zu gestalten.«
    »Mit Ihrer Befähigung wäre es doch ein Leichtes, eine sowohl interessante als auch gut bezahlte Tätigkeit zu finden. Auch Automotronix sucht ständig qualifizierte Mitarbeiter.«
    »Vielleicht habe ich einfach keine Lust zu malochen.«
    »Sie geben wohl nicht gerne Auskunft über sich selbst, oder?«
    Ich würde es nennen, ich werfe einen geheimnisvollen Schleier über ein nicht besonders spektakuläres Dasein. Ansonsten ziehe ich es vor, meine Gesprächspartner im Unklaren darüber zu lassen, ob ich es ernst meine oder nicht. Nicht nur Frauen.
    »Ein Kavalier genießt und schweigt«, entgegnete ich und konterte mit einer Gegenfrage. »Darf ich zur Abwechslung mal in Sie dringen?«
    »Wie darf ich das verstehen?«
    »Ähm. Was mich schon immer brennend interessiert hat: wie wird man eigentlich als Frau Abteilungsleiter? Pardon: Leiterin!«
    »Wie man das wird? Ehrlich gesagt, nur ungern.«
    »Ungern? Das klingt eher nach mir.«
    »Wer sagt denn, dass man beziehungsweise frau solch eine Position gerne übernimmt?«
    Hörte ich da eine gewisse Gereiztheit in ihrer Stimme? Ich dachte an Zwanziger und eine Reihe anderer Damen und Herren, die die Karriereleitern stürmten. »He, Gegenfragen stellen ist meine Nummer.«
    »Richtig.« Sie lachte. Dann nippte sie nachdenklich an ihrem Wein. »Nun, ich denke, ich bin wohl nicht der richtige Typ für Familie und so. Ich habe studiert, sogar promoviert. Und dann landen die meisten Weiber doch am Kochtopf. Ich musste mich entscheiden: entweder mein Leben lang ein kleines Licht bleiben oder mich durchbeißen. Ich habe mich für das Durchbeißen entschieden.«
    Ihre Augen funkelten im Kerzenlicht. »Erfolg bringt Neider hervor. Um so mehr in einer männlich dominierten Konkurrenz- und Ellbogengesellschaft. Ich bin tätig, während die Geier kreisen. Anders wird Frau nicht akzeptiert. Da hat sich in Jahrhunderten nicht wirklich etwas geändert. Kein Wunder. Schließlich hat sich das Gehirn auch nicht wesentlich weiterentwickelt, seitdem sich der Mensch auf zwei Gliedmaße gestellt hat. Unbelehrbare Chauvis glauben immer noch, Frauen seien einzig und allein Mutter, Dienstmagd oder Hure.«
    Emiliano ließ den Hauptgang auftragen. Während Dr. Van Aken sich mit Tagliatelle alla Siciliana und Insalata di Mare einließ, knabberte ich an Kalbmedaillons al Limone. Das Fleisch war zart, die Sauce zitronig-frisch. Eine gute Geldanlage.
    Sie wechselte das Thema. »Scheußlich diese Morde. Erst Herr Zwanziger, dann Herr Feldmann.«
    »Kannten Sie Feldmann?«, murmelte ich mit vollem Mund.
    »Mehr oder weniger. Herr Feldmann war Vorsitzender des Betriebsrats und saß als Repräsentant der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat. Wirtschaft, Gewerkschaft, Politik. Es lässt sich nicht verhindern, dass die drei sich ständig über den Weg laufen.«
    Ich schluckte genießerisch ein Medaillon herunter. »Na, da scheint ja jetzt jemand diesem flotten Dreier einen gewaltigen Knüppel zwischen die Beine geworfen zu haben. Zumindest bei der Automotronix.«
    »So? Wissen Sie vielleicht doch mehr, als Sie gestern Morgen zugegeben haben?«
    »Man macht sich so seine Gedanken.«
    »Und die wären?«
    Ich lehnte mich lässig zurück und schob die Jackettärmel bis zum Ellbogen hoch.

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Fußnoten: Gerhart Hauptmanns Drama über die Weber ist das wichtigste Theaterstück über Not und Elend in der Vorzeit der Industrialisierung. [Emil Orlik, Die Weber, 1897]
[12] Vgl.: Harald Sterk, Biedermeier, hpt-Verlag, 1988.
[13] Spitzwegs hungerleidender Poet (s. FW#19).
[14] Das letztgenannte Textilunternehmen ist die heutige Christian Dierig AG (s. Geschichte).
[15] Der Herzog Karl, der ist auch fortgejagt. Text: Braunschweig, 1830. Zitiert nach Otto/König, Ich hatt' einen Kameraden: Militär und Kriege in historisch-politischen Liedern in den Jahren von 1740 bis 1914, ConBrio 1999 (s. FW#21).
Fassade für eine Shopping-Mall: Die Welfen, die Braunschweig 1671 erobert hatten, errichteten im Stadtzentrum ihre Residenz (s. Wikipedia). 1830 stürmte eine aufgebrachte Menschenmenge das Schloss. Das Gebäude brannte bis auf die Grundmauern nieder. Während des 2. Weltkrieges wurde der Neubau bei Bombenangriffen beschädigt. Die Malerin Käthe Kollwitz hatte einen Grafikzyklus zu Hauptmanns Theaterstück geschaffen (Ein Weberaufstand, 1893-97). Er zeigt die Not leidenden Handwerker und wie sie sich zusammenrotten und gegen ihre Herren ziehen. Aus Sicht der SPD symboli-sierte die Residenz sowohl monarchistische Herrschaft als auch verbrecherische NS-Diktatur (SS-Junkerschule!). 1960 wurde das Schloss abgebrochen. Auf dem Gelände wurde der Schlosspark angelegt. Bis 2007 wird auf dem Gelände ein ECE-Einkaufszentrum gebaut, das rund 130 Geschäfte und 20 Gastronomiebetriebe beherbergen soll. Trotz Protesten wegen der Zerstörung des Parks und einer befürchteten Verödung der Innenstadt. Ein Teil des Neubaus wird mit einer Rekonstruktion der ehemaligen Schlossfassade versehen.
[16] Alle folgenden Zitate stammen aus: Der Große Steinitz: Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, deb 1979. Siehe auch Anmerkung [11].
[17] Gerhart Hauptmann, Die Weber, Dramatisches Schauspiel, 1893 (s. TR62, Bild r.o.).
[18] Wir weben, wir weben! Heinrich Heine, Die schlesischen Weber (Weberlied), 1844 (s. Wikipedia). Eine vertonte Fassung findet man auf: Liederjan, Mädchen, Meister Mönche, 1998.
[19] Käthe Kollwitz, Ein Weberaufstand, Radierzyklus, 1893-7 (www.kollwitz.de, www.kaethe-kollwitz.de, Bild ru).



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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 11/2006

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