FolkWorld Fiction von Tom Keller

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Eine Kriminalgeschichte Teil 4

Volksmusik ist todlangweilig!? Denkste, Volksmusik ist im wahrsten Sinne des Wortes tödlich! Ein Wirtschaftsboss und ein Gewerkschaftsfunktionär wurden erbarmungslos gemeuchelt. Die Vorlage des Mörders ist ein 150 Jahre altes Volkslied aus Schlesien. Die Polizei tappt im Dunkeln und ausgerechnet die unmöglichste aller Personen scheint den Schlüssel in der Hand zu halten, um die Mordserie zu stoppen. »Wissen Sie vielleicht doch mehr, als sie zugegeben haben?«, fragte mich Frau Van Aken. »Man macht sich so seine Gedanken.« »Und die wären?«

Ich lehnte mich lässig zurück und schob die Jackettärmel bis zum Ellbogen hoch. Damit war ich kleidungstechnisch in den Achtzigern angekommen. [20] Dann erzählte ich lang und breit vom Weberlied. Erst zögernd, dann sprudelte die Geschichte immer flüssiger aus mir heraus. (Danke, Hippie!)
    »Daraus folgt zwar noch lange kein Tatmotiv«, schloss ich, »aber eines ist offensichtlich: unser Mann ...«
    »Oder Frau. Wir wollen doch nicht eine Hälfte der Menschheit aus falscher Bescheidenheit ausklammern. Wir Frauen sind genauso mordlüstig wie ihr Männer.«
    »Ich weiß nicht recht. Also gut, meinetwegen. Unser Mann oder unsere Frau killt nach der Handlungsvorlage des Weberliedes. Will sagen: er – oder sie – tötet Personen, die dort namentlich genannt werden.«
    Nach meinem Sermon, der ein paar Minuten gedauert hatte, und dem sich daran anschließenden Wortwechsel trank ich erst einmal einen Schluck vom Dunkelrubinroten. Ich kippte mein Glas in einem Zug. Dann hustete ich. Der Bordeaux aus bella Italia war staubtrocken. Zu trocken, um meine ausgedörrte Kehle zu befeuchten. Und, bitte, wo war da die Frucht und die Schokolade?
    »Wir haben es offensichtlich mit einem Psychopathen zu tun«, fuhr ich fort, »der sich seine Opfer nach einer literarischen Vorlage sucht. Er wäre nicht der erste, der auf solch eine Idee verfallen ist. Kinky Friedman, weder verwandt noch verschwägert mit dem Kokser und Frauenhändler aus Bankfurt, ließ nach Hank Williams-Texten morden. Andere benutzten Dantes ›Inferno‹ als Mordvorlage, die Dramen von Shakespeare, den Struwwelpeter, die Bibel sowieso. Bücher, Gedichte, Reime. Letztendlich lässt sich alles auf Agatha Christie und die zehn kleinen Negerlein zurückführen.« [21]
    »Kann es sein, dass Sie zu viele Kriminalromane gelesen haben?«
    Der Einwand war berechtigt. »Ja, das sind alles Krimis. Aber es lässt sich nichts erfinden, was von der Wirklichkeit nicht noch übertroffen wird.«
    »Grotesk.« Sie schüttelte den Kopf. »Wenn das wahr wäre, was Sie da behaupten, wäre das ja fürchterlich.«
    »Kann schon sein. Oder auch nicht. Vielleicht ist der Täter ein ganz netter Kerl, der seine Gründe hat. Vielleicht haben Zwanziger und Feldmann es nicht besser verdient. Es gibt wahrscheinlich nicht sehr viele Menschen, die den beiden eine einzige Träne nachweinen. Nicht einmal die Angetraute oder die Genossen.«
    Sie schaute mich an, als würde sie dem gefräßigen Plapperkäfer von Traal gegenübersitzen. »Was können das für Gründe sein? Man bringt Menschen nicht einfach um, egal welche Gründe es dafür gibt. Ein Mörder gehört hinter Schloss und Riegel.«
    Bei ihrem Gefühlsausbruch blieb mir beinahe ein Bissen Kalb im Halse stecken. Ihre Hand fegte ärgerlich über den Tisch und kippte ein Weinglas um. Die blutrote Flüssigkeit ergoss sich wie die Elbüberflutung über das blütenweiße Tischtuch und bahnte sich einen Weg an Porzellan, Kristallgläsern und Silberbesteck vorbei.
    »Schuldig ist immer das Opfer!«, rief sie aufgebracht. »Wenn sie sich nicht so aufreizend gekleidet hätte! Wenn sie nicht nachts durch diese Straße gegangen wäre! Wenn nicht dies, wenn nicht das! Ich bin der Meinung, dass eine Frau das Recht hat, nackt umherzulaufen, ohne vergewaltigt oder ermordet zu werden!«
    Ich fand, das ging jetzt ein wenig am Thema vorbei. »Ja, sicher«, sagte ich. Der Rotwein hatte die Tischkante erreicht und tropfte auf den Boden. »Ich wollte nur sagen … Ober, einen Wischlappen bitte!«
    Von meinen Fischen habe ich eines gelernt, nämlich im rechten Moment den Mund zu halten. Also sagte ich lieber nichts mehr und bestellte einen Cappuccino. Da legte ich mich lieber mit einem Mafiosi wegen kulinarischer Meinungsverschiedenheiten an.
    Wir schwiegen uns gegenseitig an, bis Emiliano wieder an den Tisch kam. »Darf ich Ihnen noch etwas Gutes tun, Anna?«
    »Nein, danke. Il conto, per favore!«
    »Insieme o separati?«
    »Tutto insieme. Vorrei una ricevuta: cibi e bevande.« Ich war froh, dass Anna Van Aken wenigstens nichts von der urdeutschen Angewohnheit hielt, separatamente zu bezahlen.

Ich bestellte einen Glenmorangie, den ich unter den verstaubten Flaschen im Regal erspähte. Für den Pessimisten ist das Glas halb leer, für den Optimisten ist das Glas halb voll. Ich persönlich halte das für irrelevant. Hauptsache es gibt ein Glas und es enthält eine trinkbare Flüssigkeit.

IX

Sie kennen sicher diesen Spruch: für den Pessimisten ist das Glas halb leer, für den Optimisten ist das Glas halb voll. Ich persönlich halte das für irrelevant. Hauptsache es gibt ein Glas und es enthält eine trinkbare Flüssigkeit. [22]
    »Nabend, Freunde der Volksmusik«, grüßte ich in die Runde, als ich für einen Absacker in der WunderBar einkehrte.
    Niemand beachtete mich und erwiderte meinen Gruß. Ohrenbetäubendes Getöse attackierte das Trommelfell. Bluesmusik, ein betagter Sänger jammerte sich mit einer verstimmten Gitarre die Seele aus dem Leib. Dazu schrilles Gelächter, Flüche, Gläserklirren, schmutzige Witze. Die Luft – Luft? – konnte man mit einem Messer zerschneiden. In der dunklen Kaschemme trösteten sich die auf der Strecke Gebliebenen in einer Atmosphäre aus Alkohol, Nikotin und Schweiß über die Unbilligkeiten des Lebens hinweg.
    Ich bin mir sicher, dass der Kneipenname nicht von einem kümmerlichen Wortspiel stammte, sondern dem Lied Rio Reisers entnommen wurde.

Es ist verboten,
Was wir da machen, ist verboten,
Aber es ist wunderbar … [23]
Es wurde größter Wert darauf gelegt, den anrüchigen Ruf nicht zu verlieren. Nach jeder unvermeidlichen Ausbesserung wurde sich die größte Mühe gegeben, den ursprünglichen Zustand wiederherzustellen. Man vermied es also besser, Wände und Boden zu berühren. Und aufs Klo ging man lieber nebenan. Kein Wunder, dass die WunderBar regelmäßig von der Schließung bedroht war. Sei es auf Initiative des Gesundheitsamtes oder missliebiger Nachbarn.
    Die Rotblonde hinter dem Tresen wurde von allen nur ›Bediene‹ genannt, was aber durchaus freundlich gemeint war. Allzu offen zur Schau getragene Respektlosigkeit hätte auch nur unangenehme Folgen nach sich gezogen.
    »Hallo, Tom. Du siehst aus, als ob du unter einen Schwerlastzug gekommen bist.«
    »So ähnlich.« Ich bestellte einen Glen, den ich unter den verstaubten Flaschen im Regal erspähte.
    »Ohne Eis, ohne Wasser?«
    »Korrekt.«
    Ich sah mich um. Der Kicker und die Dartscheibe waren noch nicht durch elektronische Geräte ersetzt worden. Auf einem Barhocker neben Paco saß unauffällig wie ein Zivilbulle ein mir unbekanntes Gesicht, das auch schon mal bessere Tage gesehen hatte.
    »Wer ist der da?«
    »Ist neu hier«, antwortete Bediene. »Gerade erst aus der Hauptstadt eingeschneit.«
    Unser Zwiegespräch weckte ihn aus dem Halbschlaf. »Kann ich noch ein Kristallweizen haben? Ohne Zitrone, bitte.«
    »Ist schon unterwegs.«
    »Hallo. Ich bin der Rainer.« Er wandte sich mir zu. Ich nickte und grüßte Paco. Der stemmte ein Bier nach dem anderen. Eine seiner leichtesten Übungen. Soweit ich wusste, arbeitete er derzeit bei einer Möbelspedition, was ihm den Spitznamen ›Möbel-Paco‹ eingebracht hatte. Wir haben eine Vorliebe für Spitznamen.
    Paco, Rainer und ich hoben die Gläser und prosteten uns zu. Es mag ja noch so viele gute Gründe geben, dem Teufel Alkohol abzuschwören. Ich weiß sehr wohl, dass man damit keine Probleme löst. Aber niemand kann leugnen, dass nach dem Genuss eines Glens die Welt einfach freundlicher aussieht.
    Unter einem Glen verstehen wir das hochprozentige Feuerwasser, das in der Einsamkeit der schottischen Hochlande aus Malz, Torf und Quellwasser hergestellt wird. Ich wärmte das Glas in meiner Hand an, bis sich die Aromen entfalteten und in der Nase kitzelten. Ich nahm einen Schluck und sofort durchströmte mich wohlige Wärme. Der Whisky brannte leicht und angenehm. Zuerst tief im Rachen, dann wanderte eine leichte Lähmung zurück bis in die Zungenspitze. Er schmeckte süß und rauchig zugleich, zuguterletzt machte sich eine salzige Note bemerkbar. Das ›Tal der tiefen Ruhe‹, so der malerische Name des Getränks, musste am Meer liegen. ›Glenmorangie‹, mit Betonung auf dem mo, womit es sich auf orangie reimt. Nichts besonderes, aber ein grundsolider, zehnjähriger Single Malt.
    »Lunte?«
    »Wie?« Ein Erschießungskommando, die Gewehre angelegt, zog vor meinem geistigen Auge vorbei. »Ach so. Nein, danke. Ich decke meinen Kalorienbedarf in flüssiger Form.«
    Paco lehnte Rainers Angebot nicht ab und nickte schweigend. Er war ein Mensch von wenigen Worten und sagte stets nur das Notwendigste. Rainer holte ein Blättchen hervor und rollte Tabak hinein. Sein Feuerzeug klackte. Süßliche Schwaden füllten den Raum. Er paffte ein paar Züge und wischte sich Krümel von der Jacke. Dann gab er die Kippe an Paco weiter.
    Rainer wandte sich wieder seinem Weizenglas zu. »Also das muss man sich mal vorstellen. Viele Menschen haben überhaupt kein Durstempfinden mehr. Je älter wir werden, desto weniger nehmen wir Durst war. Aber täglich verlieren wir zweieinhalb bis drei Liter Wasser. Unser Körper braucht täglich vierzig Milliliter Wasser pro Kilogramm Körpergewicht.«
    Paco blies lässig Rauchkringel zur Decke. Rainer drehte sinnend sein Glas in den Händen. »Deshalb ist es wichtig, regelmäßig zu trinken. Auch wenn man gar nicht durstig ist. Die Hygrostatiker sagen: Trinken Sie, bevor der Durst kommt! Trainieren Sie den Durst!«
    »Ich brauch den Durst nicht trainieren«, brach Paco sein Schweigen. Er sah Bediene an und hob einen Daumen. »Haste noch mal’n Pils für mich?«
    Ein weiterer Glen fand seinen Weg zu mir und in mich hinein. Langsam machte sich der Alkohol bemerkbar. Ich begann sogar, das Geschwätz um mich herum zu mögen. Ich musste schon eine ganze Weile Bediene oder Rainer oder Paco oder alle drei angefaselt haben, ohne es zu bemerken.
    »Ich meine, sie hat den Doktor. Ich hatte in dem Alter gerade mein Studium geschmissen und den Taxischein gemacht.« Ich starrte auf den Boden meines leeren Glases. »Im übrigen, was sagt der arbeitslose Akademiker zu dem mit Arbeit?«
    »Keinen blassen Schimmer«, antwortete Bediene.
    »Einmal Pommes rot-weiß, bitte.«
    »Ich glaube, Tom, du brauchst noch einen Drink.«
    »Ich glaube auch.«

X

Anno Domini 1844. Der englische Premierminister erfand die Einkommens-Steuer. Die Buren gründeten in Südafrika den Oranje-Freistaat. In Königsberg feierte die intellektuelle Elite das dreihundertjährige Bestehen der Universität mit einem ›Fest der reinen Vernunft‹. In Brandenburg feuerte der Bürgermeister Tschech zwei Schüsse auf den preußischen König ab. [24] In Trier pilgerten eine halbe Million Gläubige zum Heiligen Rock Christi. [25]
    In Schlesien hatten die Menschen ganz andere Sorgen.
    Der Kreis Reichenbach,[26] heute Dzierzoniów, im Regierungsbezirk Breslau war seit dem Mittelalter ein Zentrum der Tuchmacherei gewesen. Die Weber waren Heimarbeiter, die von den Textilkaufleuten das Garn erstanden, webten und das fertige Tuch wieder den Kaufleuten anboten. Für ein immer geringeres Entgelt. Im Jahre 1844 betrug der Lohn nur noch ein Viertel des Lohnes von 1830. Die schlesischen Kaufleute hatten nämlich als Antwort auf die maschinell gefertigten und billigeren englischen Textilprodukte die Löhne der von ihnen abhängigen Weber gedrückt.
    Im Dorf Peterswaldau hatte sich die Firma Zwanziger & Sohn besonders verhasst gemacht.

Dobermann hatte noch gar nichts von den gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen gesagt, dem Schmutz und dem Ungeziefer, den Krankheiten, der geringen Lebenserwartung, Schwindsucht, Fieber, der hohen Säuglingssterblichkeit, den jungen Müttern, die im Kindbett starben. [Holzschnitt, 1845]

Eines Tages, am Nachmittag des 3. Juni im Jahre des Herrn 1844, fasste sich der bejahrte Weber Karl Dobermann ein Herz und ging in das Kontor der Kaufmannsfamilie Zwanziger. Ein dralles Dienstmädchen mit gestärkter weißer Schürze und Haube führte ihn in ein geräumiges Arbeitszimmer.
    Der Raum war nicht viel kleiner als die Vorhalle. Türkische Wandteppiche bedeckten die Holzvertäfelung. Über dem Kamin hing ein gewaltiges Ölgemälde, das die Eroberung der Festung Glogau im Jahre 1741 darstellen sollte. Gelbe Brokatvorhänge waren üppig drapiert und mit breiten Seidenkordeln zurückgebunden. Es war ein herrlicher Sommertag. Durch das tiefe Westfenster fiel ein breiter Sonnenstrahl in den Raum und ließ den polierten Boden erstrahlen. Da stand Dobermann nun vor dem Schreibtisch des Juniorchefs und drehte nervös die Mütze in seinen schwieligen Händen.
    Zwanziger Junior hakte Positionen in einem Büchlein ab. Er trug einen auf Taille geschnittenen Rock, eine geblümte Weste, enge Tuchhosen und blank gewichste Lackschuhe. Der Federkiel kratzte auf dem Papier. Dann klappte er das Büchlein zu und schob Schreibgerät, Tinte und Löschpapier zur Seite. Umständlich entnahm er einem silbernen Etui einen Leinenbeutel. Er schob sich eine Prise Schnupftabak in die Nasenlöcher und schnäuzte sich. Der Duft des Tabakkrauts mischte sich mit dem von Kölnischwasser. Die Zeit verging. Dobermann meinte, die Uhr auf dem Kaminsims schlage die Sekunden.
    Endlich sah Zwanziger auf. Ein stechender Blick bohrte sich in den alten Weber. »Ja?«
    Dobermann machte einen Kratzfuß. »Dobermann, gnädiger Herr. Karl Dobermann der Name.«
    »Ja und, Dobermann? Sieht er nicht, dass ich beschäftigt bin? Wenn er Ware anzubieten hat, spreche er mit dem Expedienten.«
    »Darum geht es ja gerade, Herr Zwanziger. Es ist nämlich so … Ich frage mich, viele Weber fragen sich …«
    »Fragen sich was? Stottere er nicht rum, Mann.«
    »Sie werden entschuldigen, mein Herr. Ihro Gnaden zahlen fünfzehn Silbergroschen für eine Webe Kattun von hundertvierzig Ellen. Das ist eine Woche Arbeit, zwanzig Stunden täglich. Ich hätte gern gewusst, bitte, wie meine sechsköpfige Familie von diesem Lohn Brot kaufen soll, wo es nicht einmal für Kartoffeln reicht.«
    »Ich entschuldige diese Impertinenz durchaus nicht«, donnerte Zwanziger Junior und sprang ruckartig von dem Eichentisch auf.
    »Der Fabrikant Wagenknecht zahlt zweiunddreißig Silbergroschen«, platzte Dobermann heraus.
    »Was erlaubt er sich? Wir werden Weber finden, die für zehn Silbergroschen arbeiten. Weber gibt’s genug. Es werden auch dann noch Weber für uns arbeiten, wenn die Entlöhnung nur für Quarkschnitten reicht.«
    Dobermann hatte noch gar nichts von den gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen gesagt, dem Schmutz und dem Ungeziefer, den Krankheiten, der geringen Lebenserwartung, Schwindsucht, Fieber, der hohen Säuglingssterblichkeit, den jungen Müttern, die im Kindbett starben. Nichts von der Kinderarbeit, dem Alkoholismus, der Prostitution, der Kriminalität und Gewalttätigkeit. Aber Zwanziger zog heftig an einer Klingelschnur, um nach dem Dienstmädchen zu rufen. Er wies ungeduldig zur Tür und wedelte mit der Hand, wie man eine lästige Fliege verscheucht.
    »Nun hinaus. An die Arbeit. Es gibt hier nichts herumzustehen. Ich erwarte, das Klappern der Webstühle zu hören.«

Zwanziger wies ungeduldig zur Tür und wedelte mit der Hand, wie man eine lästige Fliege verscheucht. »Nun hinaus. An die Arbeit. Weber gibt’s genug. Es werden auch dann noch Weber für uns arbeiten, wenn die Entlöhnung nur für Quarkschnitten reicht.« [Friedrich Zelnik, Die Weber, 1927]

Die Zurechtweisung Dobermanns sprach sich innerhalb von einer Stunde im ganzen Ort herum. Ermutigt von billigem Branntwein zogen gut zwei Dutzend junge Weber durch Peterswaldau. Sie sangen ein Spottlied auf die Textilkaufleute im Ort, das ein kreativer Kopf in der Schenke auf eine bekannte Melodie gedichtet hatte.

Die Herren Zwanziger die Henker sind,
Die Diener ihre Schergen …
Wachtmeister Wagner verhaftete einen Teilnehmer des Umzuges, der nicht schnell genug Reißaus nahm, und sperrte ihn über Nacht zum Ausnüchtern ein. Daraufhin rottete sich am nächsten Morgen eine erregte Menge vor Zwanzigers Haus und Fabrik zusammen. Geschöpfe des Webstuhls: die Männer schmalbrüstige Männchen, die Knie gekrümmt vom vielen Sitzen. Die Frauen vorzeitig gealtert, die jungen Mädchen blass wie Leinentücher.
    Karl Dobermann war eher unwillig gefolgt. Mit Unbehagen bemerkte er, dass sich sein jüngster Sohn in den Vordergrund drängte.
    »Wilhelm?«
    »Lass mich, Vater. Wir können uns nicht ständig ducken.«
    Sie standen auf einem breiten Kiesweg, der vom Eingangstor zum Haus führte. Der Garten war in englischem Stil gestaltet mit weitläufigen Rasenflächen und kunstvoll geschnittenen Hecken. Das zweistöckige Gebäude sah aus, wie sich Klein Fritzchen ein herrschaftliches Haus vorstellte: stolz und pompös. Eine Mischung aus Lustschlösschen und Zweckbau mit angeschlossenem Lagerschuppen. Ein Versuch, etwas Noblesse in sachliche Architektur zu bringen. Zwei Halbsäulen dienten als Portalbegrenzung, ein Dreiecksgiebel als Bekrönung. Am Putz waren erst in jüngster Zeit aufwendige Stuckarbeiten angebracht worden.
    »Ihr Herren, hört mich an!« Wilhelm Dobermann erhob seine Stimme. »Wir Weber sind die Ärmsten der Armen. Wir spulen und weben fünfzehn bis zwanzig Stunden am Tag. Die ganze Familie, auch Kinder und Kranke. Tagelang überm Webstuhl gebeugt für ein schäbiges Trinkgeld. Wir haben nie in Überfluss gelebt, nun gehen wir in Lumpen. Wir haben kein Gran Mehl, kein Körnchen Salz. Geschweige denn einen anständigen Braten. Manch armer Teufel schlachtet streunende Hunde. Und speit es wieder aus, weil sein schwacher Magen kein Fleisch mehr verträgt.«
    Seine Stimme steigerte sich von Satz zu Satz. Und dann stand eine Frage im Raum. »Wundert ihr euch, dass die Hände, die sonst das Schiffchen führen, sich zu Fäusten ballen?«
    Karl Dobermann war stolz auf seinen Sohn. Aber er hatte auch ein flaues Gefühl im Magen, als ob er selbst der arme Teufel wäre, von dem gerade die Rede war. Kaum hatte Wilhelm geendet, öffnete sich die Tür des Herrenhauses. Der alte Zwanziger trat heraus, gefolgt von seinem Sohn, seiner Gemahlin und einem Dutzend Lakaien. Die Herren trugen trotz der Hitze dunkle Überröcke, Halstücher und Zylinder. Madame Zwanziger brachte Farbe ins Spiel. Sie war eine wohlbeleibte Matrone und war mit einem backfischhaften Samtkleid in Zartrosa bekleidet. In den europäischen Metropolen hätten die Stutzer über die Puffärmel, die Schleifchen und das Hütchen mit der schwarzen Feder gelacht. Aber in der preußischen Provinz war dies der letzte Schrei.
    Der Senior hob seine Hand und brachte die aufgewühlten Männer und Frauen zum Schweigen.
    »Ruhe, Männer, seid ruhig«, sagte der weißhaarige Patriarch mit dem Backenbart. »Ich verstehe eure Sorgen. Aber glaubt ihr, dass es uns anders ergeht? Der Kaufmann und der Fabrikant sind schuld, sagt ihr. Er lebt in Hülle und Fülle und gibt den armen Webern Hungerlöhne, sagt ihr. Nein, Männer, im Gegenteil. Er ist der Sündenbock, der geprügelt wird. Er geht Risiken ein, wovon der brave Arbeiter sich nichts träumen lässt, und hat schlaflose Nächte.«
    Er stampfte mit seinem elfenbeinernen Spazierstock auf. »Was tun wir denn? Wir nehmen euch euer Tuch ab, bearbeiten und färben es, bringen es auf den Markt. Nach Breslau, Leipzig, Berlin. Und was stellen wir fest? Die Leipziger und die Berliner kaufen englisches Tuch. Kein Schlesisches. So ist es nämlich. Die Geschäfte laufen hundsmiserabel. Wir setzen zu, anstatt dass wir verdienen.«
    »Verdammte Engländer«, schrie ein Weber. »Ja, die Engländer«, ein anderer.
    »Ja, die Engländer«, wiederholte der alte Zwanziger. »Glaubt nicht, Männer, wir zahlen ein geringes Entgelt, weil wir Tyrannen und Menschenschinder sind. Wir sind nur die Mittelsmänner. Wir zahlen den Preis, den der Markt bestimmt.«
    Die Weber nickten, einige applaudierten.
    »Wir sehen, dass wir Verantwortung für unsere Leute haben. Und wir stellen uns dieser Verantwortung.« Zwanziger räusperte sich. »Nun nehmt eure Frauen und Kinder bei der Hand, Männer, und geht nach Hause. Die Zeiten sind hart, aber es wird auch wieder aufwärts gehen. Wir kämpfen dafür. In London, Paris und Moskau werden die Menschen wieder schlesisches Tuch tragen. Das bringt Geld. Geld für uns und Geld für euch. Geht es uns gut, geht es euch gut.«
    »Jawoll«, rief ein Weber. Zwanziger lächelte seine Familie und seine Bediensteten vielsagend an. Die Korsettstange von Madame Zwanziger knarzte, als sie sich entspannte und ihr Gewicht verlagerte. Karl Dobermann sah, wie Wilhelm das Blut in den Kopf stieg.
    »Wir brauchen Brot, nicht schöne Worte«, rief Wilhelm.
    Ein vierschrötiger Kommisknecht, der sich auf dem Galeerenschiff Zwanziger von der Ruderbank zum Einpeitscher hochgedient hatte, schnellte wütend nach vorne.
    »Fresst doch Gras!« brüllte er. »Das ist heuer reichlich und gut gewachsen.«
    Oh, oh. Ein ähnlich guter Ratschlag – ›wenn sie kein Brot haben, sollen sie eben Kuchen essen‹ – hatte schon Marie Antoinette ihren schönen Hals gekostet.
    Dem alten Zwanziger fiel die Kinnlade herunter. Er schluckte hart, während sein Junior grinste, als hätte er nie einen besseren Witz gehört.
    »Aufknüpfen!«, rief der Weber, der gerade noch ›verdammte Engländer‹ geschrieen hatte. »Knüpft sie auf!«
    Der schwelende Vulkan brach aus. Madame Zwanziger schnappte nach Luft und fiel kreidebleich in Ohnmacht.
    Es blieb jedoch keine Zeit, nach dem Riechsalz zu suchen. Die Zwanzigers zogen sich zunächst ins Haus zurück, Madame wurde getragen. Sofort trommelten Fäuste gegen die Haustür und das Holz erbebte unter den Schlägen. Die metallbeschlagene Tür war zwar massiv wie ein Bauernschädel, aber Riegel und Angeln würden keiner langen Belagerung standhalten. Drum verließen sie hastig das Haus durch den Dienstboten-Eingang.
    Eine zweispännige Kutsche stand angespannt vor der Remise. Die Zwanzigers kletterten in das leichte Gefährt und quetschten sich nebeneinander auf die Bank, was durch die bauschigen Röcke von Madame nicht gerade erleichtert wurde.
    »Schnell, Kutscher! Fahr er!«, gellte der junge Zwanziger atemlos und zog das Rouleau vor den Fenstern herunter. Der Alte klopfte mit dem Stock gegen das Kutschendach.
    Der krummbeinige Kutscher klappte eilig den Tritt herauf, entfernte die Hemmschuhe von den Rädern und nahm den beiden Apfelschimmelstuten die Futtersäcke ab. Gewandt sprang er auf den Bock und klatschte mit den Zügeln. »Heja! Los! Los!« Das Gespann stürmte los und wirbelte Staub und Gras auf.
    Die Zwanzigers duckten sich tief in die Polster. Die meisten Weber wichen vor dem Gefährt zurück. Die Stuten scheuten jedoch, als Hände am Geschirr zerrten. Sie schnaubten und bäumten sich auf. Einige Frauen schleuderten Unrat gegen die Kutschentüren. Der Kutscher fluchte. Als ein Stein über das Dach schlitterte, ließ der verängstigte Mann die Peitsche knallen. Der Zweispänner machte einen Satz nach vorne und die Menge stob auseinander.
    Während die Firma Zwanziger & Sohn Hals über Kopf das Weite suchte und nicht vor Breslau halt machte, tobte der Mob durch das Anwesen. Die Weber erbrachen alle Räume von den Kellergewölben bis zu den Dachböden. Dielen wurden aufgerissen, die prächtigen Fenster gingen zu Bruch. Sie zerschlugen, was ihnen in die Finger geriet: kostbares Porzellan und Kristallglas, die venezianischen Spiegel, Kronleuchter und Möbel, das rot lackierte Pianoforte. Die Ölporträts der Kaufherren wurden durchlöchert und als Abtritt missbraucht. Die Bücherschränke wurden umgestoßen und Werke der schönen Literatur und philosophische Traktate wurden in Fetzen gerissen. Schillers ›Räuber‹, E.T.A. Hoffmanns ›Meister Floh‹, hoppla, sogar schon Heines ›Wintermärchen‹. [27] Einem aufmerksamen Beobachter wäre aufgefallen, dass die in Leder gebundenen Prachtbände eher wegen ihres Eindrucks auf Besucher als wegen ihres Inhalts ausgesucht worden waren. Manch Blatt war noch nicht einmal aufgeschnitten worden.
    Im Keller fand sich eine beachtliche Vorratskammer. Wohliger Geruch zog die leeren Mägen zusammen und ließ Speichel unter den Gaumen zusammenfließen. Die hungrigen Männer und Frauen stürzten sich gierig auf Schinken, Wurst und Käse. Im Weinkeller griffen die Weber die stattlichen Vorräte an. Sie nahmen sich nicht einmal die Zeit, die Flaschen zu entkorken, sondern köpften sogleich die Hälse. Egal ob sie sich die Mäuler zerschnitten oder nicht. Nachdem das Wohnhaus verwüstet worden war, drangen die Weber in das Packhaus und die Färberei ein. Sie rissen die Stoffballen aus den Regalen. Waren und Vorräte flogen auf die Straße. Der Bach färbte sich von dem Indigo schwefelblau.
    Gegen Abend zerstreuten sich die Aufständischen, erschöpft von ihren Taten und dem schweren Wein. Zurück blieb nur ein lächerliches, federgeschmücktes Hütchen, das in der Auffahrt von unzähligen Füßen zertrampelt worden war.

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Fußnoten:
[20] Ich schob die Jackettärmel bis zum Ellbogen hoch. Damit war ich kleidungstechnisch in den Achtzigern angekommen. Bei der Lektüre von Frank GoosensLiegen lernen‹ (Eichborn 2000) habe ich mich zwar tierisch gelangweilt (wen interessiert eigentlich eine Aneinanderreihung von sexuellen Abenteuern, wenn es sich nicht gerade um einen interessanten Zeitgenossen wie Casanova handelt?), aber ich habe mich tatsächlich wieder an diese eigentümliche Erscheinung dieser Dekade erinnert.
[21] Der sich seine Opfer nach einer literarischen Vorlage sucht. Siehe z.B.: Kinky Friedman, ›A Case of Lone Star‹ (Faber & Faber 1998); Matthew Pearl, ›Der Dante Club‹ (dtv 2003); M.J. Trow, ›Lestrade und die Struwwelpeter-Morde‹ (rororo 1990); Agatha Christie, ›Zehn kleine Negerlein‹ (Scherz 2001).
[22] Hauptsache es gibt ein Glas ... Sinngemäß äußerte sich so Michelle Shocked (s. FW#24).
[23] Verboten. Text: Ralph Möbius (d.i. Rio Reiser), Musik: Ralph Möbius, Ralph Steitz, 1983.
[24] In Brandenburg feuerte der Bürgermeister Tschech zwei Schüsse auf den preußischen König ab. Das Spottlied über den erfolglosen Attentäter wurde u.a. von der Leipziger Folksessionband aufgenommen: ›18 aus 48 – Das Beste von der Barrikade‹, 1998 (s. FW#5).
[25] 1844 wallfahrte die katholische Welt mal wieder zum sog. Heiligen Rock Christi in Trier. Rudolf Löwenstein hat sich darüber in dem Lied von der ›Freifrau von Droste-Vischering‹ lustig gemacht (s. FW#32).
[26] Zum Kreis Reichenbach und seinen Ortschaften siehe: www.kreis-reichenbach.de, www.peterswaldau.de, www.langenbielau.de. Der Weberaufstand 1844 hat (fast) so stattgefunden, wie ich ihn geschildert habe. Außerordentlich anregend war u.a. Gerhart Hauptmanns Drama ›Die Weber‹. Siehe Anmerkungen [10] und [17].
[27] Friedrich Schiller, Die Räuber (Reclam 1986); E.T.A. Hoffmann, Meister Floh (Reclam 1986); Heinrich Heine, Wintermärchen (dtv 1997). Siehe auch Anmerkung [18].

Das zweistöckige Gebäude der Familie Zwanziger sah aus, wie sich Klein Fritzchen ein herrschaftliches Haus vorstellte: stolz und pompös. Eine Mischung aus Lustschlösschen und Zweckbau mit angeschlossenem Lagerschuppen.



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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 11/2006

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