FolkWorld Ausgabe 32 12/2006; Artikel von Walkin' T:-)M


Lieder für Opa Weber und Erika Mustermann
Die Grenzgänger & Frank Baier auf Spurensuche im März 1920

Auf der einen Seite Michael Zachcial und Jörg Fröse von den Grenzgängern (-> FW#21): eine Mischung aus Chanson, Volkslied und Musikkabarett mit Liedern deutscher Auswanderer und den garstigen Gesängen des Hoffmann von Fallersleben. Auf der anderen Seite Frank Baier (-> FW#27): der Arbeitervolkssänger aus dem Ruhrpott feierte vor kurzem zusammen mit den Sons of Gastarbeita auf der Bühne sein Comeback. Vermischt man dies zu einem bunten Cocktail, was kommt dabei heraus? Lieder der Märzrevolution 1920! -- Michael Zachcial stand Rede und Antwort: Was war da los im Ruhrgebiet im März 1920?

Michael Zachcial: Republikfeindliche, monarchistische, völkisch gesinnte Freikorpssoldaten putschen mit dem Hakenkreuz am Stahlhelm am 13. März 1920 gegen die Weimarer Republik, die Reichswehr weigert sich, die rechtmäßige Regierung zu verteidigen. Friedrich Ebert und die Dortmund, März 1920, www.chanson.de sozialdemokratisch geführte Regierung fliehen nach Stuttgart. Überall im Land treten daraufhin die Arbeiter in den Generalstreik, erstmals in der Geschichte unseres Landes. Es kommt, wie der Historiker Georg Eliasberg es formuliert hat, "zur größten Aufstandsbewegung, die es in Deutschland seit den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts gegeben hat." [www.revoluzzen.de]

Gegen die Freikorpsoldaten, die versuchen, die Arbeiter mit Waffengewalt zur Arbeit zu zwingen, setzen sich die Arbeiter zur Wehr, entwaffnen die Soldaten und schon nach wenigen Tagen bricht der Putsch zusammen. Der Anführer der Putschisten, der Bankier Wolfgang Kapp, flieht, die Regierung kehrt wieder zurück nach Berlin, erklärt den Streik für beendet und fordert die Arbeiter auf, die Waffen niederzulegen, Die Arbeiter, vor allem im Ruhrgebiet, weigern sich und stellen Forderungen auf. Vor allem geht es ihnen darum, daß die meuternden Offiziere und alle Sympathisanten und Unterstützer des Putsches aus der Armee und der Verwaltung entfernt werden und statt dessen regierungstreue Menschen ihre Funktionen übernehmen.

Die Arbeiter sind sich uneins, ein Teil will die Waffen abgeben, ein anderer Teil besteht auf Erfüllung ihrer Forderungen. Diese Uneinigkeit wird von der Reichsregierung unter Führung von Friedrich Ebert ausgenutzt, im Bielefelder Abkommen macht er den Arbeitern Versprechungen, die - wen wundert es - dann später nicht eingehalten werden. Gleichzeitig entsendet die Regierung nun Soldaten in das Ruhrgebiet, darunter die gleichen Truppen, vor denen sie gerade noch geflohen waren. Die Freikorps verüben zahlreiche Greueltaten, mehr als tausend Arbeiter werden noch nach Beendigung der Kämpfe getötet. Arbeiter werden verstümmelt, müssen sich ihr eigenes Grab schaufeln, man fühlt sich an spätere Verbrechen der SS erinnert.

Die Justiz der Weimarer Republik lässt die Mörder ungeschoren, Familien getöter Arbeiter, die die Republik vor den Putschisten verteidigt hatten, erhalten keine Unterstützung vom Staat. Unfaßbar!

Was hat euch bewogen, sich mit den Liedern des März 1920 zu beschäftigen?

Es gibt so viele Gründe. Vordergründig und kurz gegriffen: die Rolle der SPD damals und heute, die mit großen Versprechungen an die Macht kam, ihre eigenenen Wähler bitter enttäuschte und eine große Chance Michael Zachcial, www.chanson.de verspielte. Da ist die Parallele von Schröder zu Ebert. Ähnlich wie 2005 verlor die SPD nach 1920 einen ganz großen Teil ihrer Wählerschaft. Im Januar 1919, bei den Wahlen zur Nationalversammlung, hatten noch zwölfeinhalb Millionen SPD gewählt. Nach 1920 fanden sich nur noch fünfeinhalb Millionen SPD-Wähler.

Und dann die Frage, warum die Machtergreifung 1933 nicht verhindert werden konnte: die Antwort liegt in den Ereignissen von 1920! Die SPD-Regierung stellte zu Beginn der Weimarer Republik Freikorps mit republikfeindlichen Soldaten auf, die später vielfach Karriere in SA und SS gemacht haben und deren Offiziere von den Nationalsozialisten hoch geehrt wurden. Diese Freikorps ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht und verübten 1920 Greueltaten an mehr als tausend Menschen, von denen nicht wenige Anhänger der SPD gewesen sind.

Aber das ist nur die naheliegendste Begründung: Nur für den Fall, daß es bisher keiner gemerkt hat: Das hier wird eine Serie! Wir holen uns unser Erbe. Und wir haben lange damit begonnen, bevor die Kollegen Hannes Wader [-> FW#20, FW#25] und Erich Schmeckenbecher [-> FW#21, FW#24, FW#29] zu klagen begannen, daß Nazis ihre Lieder singen [-> FW#24]. Sicher ist "1920" eine politische Platte, aber es ist auch eine CD, in der es um Heimat geht, es geht um unsere Wurzeln - oder neudeutsch: Roots. Und hier sei einmal ein Landsmann zitiert, dessen Texte wir sehr lieben und schätzen gelernt haben und der über die Ereignisse von 1920 auch deutliche Worte gefunden hat: Kurt Tucholsky!

"Ja, wir lieben dieses Land. Und nun will ich euch mal etwas sagen: Es ist ja nicht wahr, daß jene, die sich 'national' nennen und nichts sind als bürgerlich-militaristisch, dieses Land und seine Sprache für sich gepachtet haben. [...] Im Patriotismus lassen wir uns von jedem übertreffen - wir fühlen international. In der Heimatliebe von niemand [...] Wir pfeifen auf die Fahnen, aber wir lieben dieses Land. Und so wie die nationalen Verbände über die Wege trommeln, mit dem gleichen Recht, mit genau demselben Recht nehmen wir, die wir hier geboren sind, wir, die wir besser deutsch schreiben und sprechen als die Mehrzahl der nationalen Esel - mit genau demselben Recht nehmen wir Fluß und Wald in Beschlag, Strand und Haus, Lichtung und Wiese, es ist unser Land. [...]"

Wie ist es zu der Zusammenarbeit mit Frank Baier gekommen?

Als ich Ende der siebziger Jahre in Duisburg meine ersten Griffe auf der Gitarre probierte, war Frank schon ein über das Ruhrgebiet hinaus bekannter Liedermacher - und wir freundeten uns an damals und haben uns nie aus den Augen verloren, auch als ich von Duisburg aus nach Bremen Jörg Fröse, Michael Zachcial, Frank Baier, www.chanson.de zog und Frank schwer krank wurde und etliche Jahre lang kaum noch öffentlich auftrat. Ich habe großen Respekt vor seiner Arbeit und seinem Lebenswerk, er war sicher eines meiner Idole in den ersten Jahren. Ein taz-Reporter nannte ihn vor kurzem den "Woody Guthrie aus dem Ruhrgebiet" Und es war schon lange mein Wunsch, einmal ein gemeinsames Projekt mit ihm zu machen und Jörg Fröse und Arne Wagner waren sofort von der Idee begeistert.

Bei der Arbeit an dieser CD habe ich immer mal wieder an Woody Guthries LP "Sacco und Vanzetti" denken müssen, die übrigens nichts zu tun hat mit der Schnulze "Here's to you Nicola and Bart" - also ganz klar ist da Woody Guthrie als Inspiration zu nennen [-> FW#31], dann Walter Moßmann mit "Sophie Lapierre" - aber auch Bob Dylans "Here comes the story of Hurricane", Rio Reiser von Ton, Steine, Scherben, der schon 1980 Lieder über die Ereignisse von 1920 geschrieben hat wie "Jetzt schlägt's 13". Torch und Advanced Chemistry waren mir für das Stück "1920" eine Inspirationsquelle ("Gestatten Sie, mein Name ist Frederik Hahn"), für unsere Version der "Internationalen" hatten wir irgendwo sicher Bill Monroe oder die Nitty Gritty Dirt Band im Ohr ... Aber wir hören alle so viel und haben so unterschiedliche musikalische Inspirationsquellen, das reicht von Led Zeppelin bis Schubert und zurück. Ich liebe diese Band!

Was aber die Tatsache angeht, daß wir ein Projekt mit Frank Baier gemacht haben, der ja deutlich einer anderen Generation angehört, so war ich begeistert von den letzten Sachen, die Johnny Cash [-> FW#26] mit jüngeren Leuten gemacht hat oder vor langer Zeit Pete Seeger [-> FW#29] mit Arlo Guthrie. In anderen Ländern scheint das nichts Ungewöhnliches zu sein ...

Wo stammen die Lieder her?

Frank Baier hat Ende der siebziger Jahre Zeitzeugen getroffen, die noch mit eigenen Augen gesehen haben, was damals geschah. Zumeist waren das Bergleute gewesen, die ihm dann bei Kücheninterviews Lieder aus der Zeit Frank Baier, www.chanson.de vorgesungen haben. Den größen Teil der Lieder hatte er dann in dem Buch "Arbeiterlieder aus dem Ruhrgebiet" veröffentlicht. Zumeist waren das Umdichtungen damals bekannter Lieder durch unbekannte Verfasser. Frank lernte bei den Kücheninterviews aber auch einen Oberhausener Arbeiterdichter kennen, den Johannes Leschinsky, der 1920 siebzehn Jahre alt gewesen war und einige Texte über die Ereignisse verfasst hatte. Darunter war das Stück "Es zog ein Rotgardist hinaus", das wir in einer von ihm selbst gesungenen Version aus dem Jahre 1980 mit auf die CD genommen haben.

Drei Texte stammen von Oskar Kanehl, dessen Gedichtband "Strasse frei!" damals sehr populär in der Arbeiterbewegung war. Eine absolute Besonderheit ist "Die Toten an die Lebenden" von Ferdinand Freiligrath, entstanden 1849. Dieses Gedicht wurde immer wieder bei den Trauerfeierlichkeiten für die getöteten Arbeiter vorgetragen.

Wird es dies Programm auch live geben?

Sicher. Wir haben ja die Premiere 2004 auf dem Waldeckfestival gespielt und das Publikum gab anschliessend stehende Ovationen. Wir waren in Thüringen, wo noch viele Straßennamen an die Ereignisse erinnern, spielten Ende Februar in Berlin auf dem Festival "Lied und Politik", und im März waren wir im Ruhrgebiet auf Tournee - weitere Anfragen kommen fast täglich in den Briefkasten. Vielleicht spielen wir auch wieder im Ausland, wie mit den anderen Programmen ...

Wo siehst du eure Zielgruppe?

Alle, die hier leben, also das ganze "deutsche Volk" - aus welchen Ländern sie auch immer hierher eingewandert sind, um ein besseres Leben zu finden. Zumeist werden es Menschen sein, die das ganz deutliche Gefühl haben, daß ihre Wirklichkeit nicht vorkommt in den Medien, daß Frank Baier, Jörg Fröse, Michael Zachcial, www.chanson.de ihre Geschichten dort nicht erzählt und ihre Lieder nicht gesungen werden: das ist die Hausfrau, der Punk, der Müllmann, die Kassiererin bei Aldi, Opa Weber und Erika Mustermann, die Kinder der Einwanderer, die wissen wollen, in was für einem Land sie eigentlich leben. Das mag blumig klingen, aber wir erleben das bei beinahe jedem Konzert.

Was haben diese Liedern heute noch zu sagen?

Das muß jeder für sich selbst beantworten. Oft erscheint es unseren Zuhören unglaublich, daß manche Texte schon achtzig Jahre unterwegs waren bis zu ihnen und immer noch so aktuell sind! Aber wenn die Verhältnisse, in denen die Lieder entstanden sind, wenn die Hoffnungen, Wünsche, Sehnsüchte, Ängste und Sorgen der Menschen, die die Lieder verfasst haben, sich wenig von unseren heutigen unterscheiden, warum sollen die Lieder dann an Aktualität verlieren? Es ist auch weniger eine Frage des Inhalts als der Form, wenn diese Lieder als nicht mehr zeitgemäß erscheinen - aber wenn man die Form nicht als etwas Festes betrachtet, sondern als Material, mit dem man als Musiker spielen kann? Auch die Menschen, um die es auf dieser CD geht, also die Arbeiter und Arbeiterinnen, die den Aufstand im März 1920 wagten, haben ja ältere Lieder gesungen, umgedichtet und verändert, z.B. aus der 1848er Revolution [-> FW#5]. Das ist doch im Volksliederbereich immer gemacht worden. Wir verändern die Form, restaurieren, renovieren, schleifen vorsichtig an den alten Liedern bis sie in ihrer ganzen Schönheit zu Tage treten und wir den Eindruck haben, daß sie wieder zu uns sprechen. Und es funktioniert!

Vielleicht einige Anmerkungen zu dem Verlag, den ich von zehn Jahren gegründet habe, um absolute künstlerische Freiheit zu haben: So ein Projekt kommt nur zustande, weil wir eine bestimmte Philosophie haben. Wir wollen CDs machen, die auch in zig Jahren noch ihren Wert haben, weil sie sich vom Repertoire und vom Konzept her deutlich abheben von Massenprodukten, die versuchen im aktuellen Trend mitzuschwimmen. Jörg Fröse, www.chanson.de Glücklicherweise wird diese Idee vom Publikum und den Medien verstanden. Wir haben das Glück, daß wir mit einem professionellen Vertrieb (Indigo) zusammen arbeiten können, sind im Buchhandel vertreten und zusätzlich mache ich zu jedem Projekt ein umfangreiches Internetprojekt, zu dieser CD ist das www.revoluzzen.de. Weitere Internetprojekte sind unter anderem: www.volksliederarchiv.de, www. kinderlied.de, www.chanson.de, www.von-fallersleben.de.

Diese CD hat ein 68-seitiges Booklet mit vielen, vielen Fotos und Hintergrundinformtionen, weil die Bücher, die zu dem Thema veröffentlicht wurden, nur noch vereinzelt in Antiquariaten erhältlich sind. Das macht die CD teurer, hat aber hoffentlich den Nebeneffekt, daß mehr Menschen die CD kaufen werden und sie nicht kopieren.

Die nächste Veröffentlichung wird übrigens eine CD von Martin Sommer sein, den nicht nur ich für eines der grössten Talente der hiesigen Liedermacherszene halte. Außerdem kommen weitere Kinderliederveröffentlichungen [-> FW#31, FW#31], denn was da mit Rolf Zuckowski und Detlef Jöcker in den Kinderzimmern läuft, grenzt ja an Kindesmißhandlung!

FolkWorld-Rezensionen:
Die Grenzgänger & Frank Baier "März 1920" (2005)
Die Grenzgänger "Knüppel aus dem Sack" (2001)
Frank Baier "Portrait" (2003)
Zaches & Zinnober "Schräg" (2004)

Photo Credit: (1) Märzrevolution 1920; (2) Michael Zachcial; (3) Jörg Fröse, Michael Zachcial, Frank Baier; (4) Frank Baier; (5) Frank Baier, Jörg Fröse, Michael Zachcial; (6) Jörg Fröse (taken from website).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 12/2006

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