FolkWorld #75 07/2021
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Carl Spitzweg: Der arme Poet

T😷M's Nachtwache


Aller Anfang ist schwer. Aber jedem Anfang wohnt ein Zauber inne. Und wenn man an diesem Punkt schon wüsste, was da für eine Blume gedeiht... Bereits mit zweieinhalb Jahren in der Mitte der dreißiger Jahre begeistert Peter Rohland als Varieté- und Bettel-Sänger in den Berliner Hinterhöfen. Wo immer Musik war, da rannte er hin und war nicht mehr wegzukriegen, erinnert sich die Mutter:

Cowboy und Holzfällerlieder
Schon früh beschäftigt sich Peter Rohland mit Skiffle-Musik: "Skiffle-Gruppen sind Musikbanden in Amerika, die mit amerikanischen, volkstümlichen Instrumenten ausgerüstet sind. Damit macht man heute Volksmusik, oder wie es heutzutage oft der Fall ist, neue Musik im Stile der alten. Amerikanische Volksmusik ist nicht zu verwechseln mit den Hillbillys. Die amerikanische Volksmusik, die uns interessiert, entstand um die Zeit der großen Eisenbahnbauten, der Industrialisierung, kurz, der Pionierzeit. Ich treibe zur Zeit eingehende Untersuchungen, wo für uns neuer Stoff zu finden ist." Es ist die Hoch-Zeit des klassischen Westernfilms, der auch das deutsche Kino beherrscht. Pitter sammelt Liederhefte und Aufsätze und verfasst selbst ein Manuskript über den "schwarzen Orpheus Leadbelly". Er hat die Cowboy und Holzfällerlieder in seinem letzten Lebensjahr noch mehrmals vorgetragen, zu einem geplanten "Hootenanny" mit Colin Wilkie, Shirley Hart und John Pearse kommt es aber nicht mehr. Zehn ausgewählte Stücke hat Pitter noch mit Gesang und Gitarre aufgenommen, die instrumentale Begleitung wurde nun Jahrzehnte später hinzugefügt: Hanno Botsch (Geige), Lothar Pientka (Banjo, Mundharmonika) und Hans-Jürgen Janda (Bass). Es beginnt mit "Seid still, ihr Dogies" und es heißt "Quelle unbekannt": Tatsächlich fand ich das Original "Get Along, Little Dogies" (a.k.a. "Whoopie Ti Yi Yo") im "Piano Chord Songbook - Folksongs". [42] Durch Owen Wilster (Autor des allerersten Westernromans "The Virginian") fand das Lied, womöglich die Adaptation einer traditionellen irischen Ballade, Eingang in John Lomax' "Cowboy Songs and Other Frontier Ballads" (1910) und wurde von Roy Rogers (1940), Pete Seeger (1958), Bing Crosby (1960), dem Kingston Trio (1962) u.v.a. aufgenommen. Ansonsten stammen die Übertragungen ins Deutsche von Wolf Kinzel und (dem in bündischen Kreisen als "tejo" bekannten) Walter Scherf (von dem weniger bekannt ist, dass er auch Tolkiens "Kleinen Hobbit" übersetzt hat): die Ballade von Jesse James, vom riesenhaften Holzfäller Paul Bunyan und seinem blauen Ochsen, den Viehrouten von Texas nach Colorado und Mexiko ... Pitter interpretiert diese Kuhtreiber-Kantaten mit seiner ausdrucksvollen, etwas pathetischen Stimme, die die Songs vom Lagerfeuer ins Konzerthaus verfrachten. Es fehlt auch nicht eine franko-kanadische Weise, denn Pitter meint: "Gut ist auch die franz.-kanadische Volksmusik, die eine sehr reizvolle Verbindung französischer Melodik mit amerikanischem Rhythmus aufweist."

Artist Video
Peter Rohland "Cowboy und Holzfällerlieder", soundhouse7, 2020


Peter Rohland

Artist Video Peter Rohland @ FROG

www.peter-rohland-stiftung.de

Im Krieg und nach dem Krieg, da hab ich gesagt; "Peter", nachdem ich ihm so die Klampfe beigebracht hatte, "Peter, quak doch nicht immer diese schrecklichen amerikanischen Lieder, ich bin ja aus einer anderen Generation, für uns waren die Amerikaner und Engländer immer noch Feinde, ist ja klar, das ist ja fürchterlich, es gibt doch so viel deutsche Lieder, soviel Schöne", sagt er: "Die taugen doch alle nix, ist doch alles Mist." Sag ich: "Du musst sie bloß suchen, es gibt so viel schöne Lieder", ... Langsam und sicher ist er dann zum Volkslied übergegangen, da brachte er dann deutsche Volkslieder, da haben sie ihn ausgelacht, was will denn der Mensch mit deutschen Volskliedern, deutsch, brrrr schrecklich. Amerikanisch muss man singen, Englisch muss man singen, Französisch muss man singen.



Hanno Botsch, Peter Rohland: Biographie • Erinnerungen, Tagebücher, Reflexionen. Spurbuch Verlag, 2021, ISBN 978-3-88778-607-6, 160 S, €24,00

1952 entdeckt Peter Rohland die Burg Waldeck, zentrale Anlaufstelle der bündischen Jugendbewegung. Fortan ersetzt die Jungenschaft für Rohland, nunmehr Pitter genannt, die Familie und das alte Leben. Er schreibt in sein Tagebuch: Das Jungenschaftliche ist das Herumexperimentieren auf allen Gebieten, die für den persönlichen Reifeprozess wichtig sind. Es ist ein Bund der Kritischen. Auf ihre Paniere geschrieben haben sie: Toleranz - Freiheit - Verantwortung - Achtung vor dem Anderen.

Zwischen Abitur und Studium (erst Jura in Tübingen, dann Musikwissenschaft in Berlin) fällt die für die Bündischen typische Orientfahrt, die Pitter bis nach Basra führt. Daneben (oder vor allem) arbeitet er an Musikprogrammen, da ihm da Geklampfe am Lagerfeuer längst nicht mehr genug ist. Ende 1962 erscheint bei Thorofon (Verleger Helmut König)[76] seiner erste Schallplatte.

Diese Platte mit fünf im Mollton gehaltenen Liedern war eine Art Abgesang an Pitters Zeit in der Jugendbewegung. Im Booklet heißt es: Was geschieht, wenn man sich im Kreis seiner Horte in einer durchbecherten oder durchtanzten Nacht "ausgesungen" hat? Kommt dann in der grauen Morgenstunde, wenn die Haare wirr sind und die Stimmbänder rauh, nicht der Augenblick, da sich der eine oder andere die Klampfe angelt und die Ballade von Herrn Glomme zu Gehör bringt? Und die anderen liegen am rauchenden Feuer, schauen in den Himmel und sind die besten Zuhörer! Gibt es nicht eine ganze Reihe solcher Lieder, die - ohne Gemeinschaftslieder zu sein - immer wieder im Gruppenleben auftauchen? Und gehören der Einzelgesang und das Vorsingen nicht zur Horte wie das Geschichtenerzählen? Es scheint mir keine schlechte Idee zu sein, auf Sängerkriegen auch Einzelleistungen zu bewerten. Gewiss, "Stars" sollen nicht gezüchtet werden. Aber sind solche Impulse für den Einzelnen nicht eine wichtige und schöne Sache? Diese Sänger werden dann später kaum ihre Klampfe an den bewussten Sargnagel hängen, sondern auch noch nach ihrer Gruppenzeit in die Saiten greifen. Im bündischen Bereich gibt es viele Lieder, die über den Hortenrahmen weit hinausreichen. Ist es nicht schade, dass wir dem französischen Chanson so wenig entgegen setzen, den Brassens, Montand, Ferré!

Pitter fragt den Hanno Botsch, ob dieser mit seiner Geige mitmachen wolle, und tourt im Sommer 1963 mit seinem Jiddisch-Programm "Der Rebbe zingt" durch die Bundesrepublik.

Also fuhren wir los, in Pitters kultigem Kübelwagen, ein Wagen aus der Wehrmacht. An der Türe klebte ein Plakat: "Der Rebbe singt". Das Auto und das Plakat allein waren schon beste Werbung. ... Wir waren echte "Pioniere", entdeckten für unser Publikum die ganze Welt der unbekannten jiddischen Kultur. Jiddische Lieder, was war das? Man kannte ja noch nicht einmal Juden. Die Frankfurter Prozesse um die Auschwitz-Verbrechen begannen erst. Und dann: Antisemitische Äußerungen waren damals sozusagen noch "salonfähig". ... Aber andererseits: Es gab auch diese Neugier: Was sind das für Lieder? Welchem Kulturkreis entspringen sie? Warum sind sie so anders als unsere eigenen Lieder? ... Die Konzertsäle waren so voll, dass nicht selten Zuhörer unmittelbar vor uns auf dem Boden saßen, so dass ich aufpassen musste, nicht auf jemanden zu treten. Meistens saßen wir anschließend noch mit unseren Freunden zusammen, diskutierten, bekamen Anregungen, das war immer ein schöner Abschluss des Abends.

Fast 60 Jahre später schreibt Hanno Botsch, der zwischendurch als Arzt tätig gewesen ist und erst im neuen Jahrtausend ein eigenes Programm mit jiddischen Liedern erarbeitet hat, seine Erinnerungen nieder. Peter Rohland: Biographie • Erinnerungen, Tagebücher, Reflexionen ist eine redliche Lebensbeschreibung Peter Rohlands geworden. Botsch hatte noch 1985 ein Interview mit Pitters Mutter geführt und Zugang zu Briefen und vor allen Dingen zu Pitters Tagebüchern. Er, der nie viel über sich redete, diesem Tagebuch vertraute er vieles an: Gedanken, Pläne, Gefühle, auch Poesie!

Als ob er geahnt hätte, dass ihm nur wenig Zeit verbleiben sollte, schlug er ein enormes Tempo an: Bereits 1963 überaschte er mit einem neuem Programm, zur Abwechslung überwiegend fröhlichen Balladen von Landstreichern und Handwerksgesellen, die er in Liedersammlungen wie dem Ostwald gefunden hatte.[26]

Um den Jahreswechsel 1963/64 war er Initiator und Mitorganisator des Chanson Folklore International auf der Burg Waldeck,[32] das das Sprungbrett für Liedermacher wie Degenhardt, Süverkrüp und Mey sein sollte. Auch Pitter wurde dabei klar, dass ein Programm mit eigenen Liedern her musste. Liedertexte verfasste er aber nicht, er schrieb Gedichte, also entschied er sich für Vertonungen und entdeckte François Villon in den Nachdichtungen von Paul Zech.

Die Lieder - obwohl aus dem 15. Jahrhundert - boten Pitters Themen Stoff: Abenteuer, Liebe, Kampf für Freiheit und Gerechtigkeit und eben: Balladen. ... Vorbild bei den Vertonungen war der von uns sehr geschätzte Georges Brassens. Pitters Melodien waren anspruchsvoller als die der meisten Liedermacher, kunstvoll, mit gewagten Durchgängen durch die Harmonien.



Wolfgang Niedecken über Bob Dylan. Kiepenheuer & Witsch (KiWi Musikbibliothek, Band 11), 2021, ISBN 978 - 3 - 46200 - 120 - 4, 230 S, €14,-

Bob Dylan

Artist Video Bob Dylan
@ FROG


Artist Video bobdylan.com
www.bap.de

Auf dem Waldeck-Festival 1965 sang Pitter vier seiner Villon-Vertonungen und aus seinem neuen Programm Deutscher Volkslieder: heitere und deftige Moritaten des 14.-16. Jahrhunderts, sowie Lieder, die die gängigen Liederbücher verschweigen. Deserteur-Balladen als auch Lieder des Weberaufstands und der 1848er-Revolution fand er in der monumentalen Kompilation von Wolfgang Steinitz "Deutsche Volkslieder demokatischen Charakters aus sechs Jahrhunderten".[32]

Ich glaube, es ist an der Zeit, den Nebel auseinander zu blasen, mit dem die Romantiker die völkische Ideologie unsere Volkslieder umgeben haben. Es ist Zeit, neben den Liedern vom Schwartenhals, der armen Jüdin und des Deserteurs auch die Gesänge der Revolution 1848, der Arbeiterkämpfe und die Lieder aus dem KZ mit dem Begriff 'deutsches Volkslied' zu verbinden. Wir müssen diesen Begriff entideologisieren. Deutsche Volkslieder haben weder mit "Volksseele" noch "ewigen Werten" etwas zu tun. Es sind einfach Lieder, die den ganzen Aspekt menschlichen Lebens erfassen. Von der äußersten Sentimentalität bis zur harten oder herben Darstellung. Mein Interesse gilt eine genau erkennbare Situation oder den Ablauf eines Geschehens zu schildern.

Die meisten dieser von Pitter zu Tage geförderten Lieder wurden erst ein Jahrzehnt später wieder von der in den siebziger Jahren in Mode gekommenen Folkbewegung aufgegriffen. Pitter selbst konnte die Ernte nicht mehr einholen. Er verstarb unerwartet mit nur 33 Jahren an einem Schlaganfall. Ein bisschen wurde wieder der Nebel um die Person Peter Rohland gelichtet, und in Deutsch-Folk und Klezmer weit verbreitete Lieder aus der Geschichtslosigkeit geholt. Danke dafür!


Als Peter Rohland das Zeitliche segnet, ist Bob Dylan gerade in Europa unterwegs - begleitet von den Judas- und Go-Home-Rufen enttäuschter Fans. Im Jahr zuvor hat er sich mit den beiden LPs "Bringing It All Back Home" (eines der ersten Folk-Rock-Alben) und "Highway 61 Revisited" (laut Rolling Stone Magazin das viertbeste Album aller Zeiten) vom Folk- und Protest-Lied abgewandt. Dylan nimmt den Aufruhr im Publikum scheinbar gelassen und fordert The Band auf, lauter zu spielen. Zu diesem Zeitpunkt weiss aber auch er noch nicht, dass es eine Erfolgsgeschichte sein wird.

Ohne ihn wäre ich mit Sicherheit nie Musiker geworden. Für mich ist er der größte unter den amerikanischen Songwritern. Kein anderer Musiker hat mir einen tieferen Einblick in die amerikanische Seele gegeben. Viele meiner Songs wären ohne das Werk Bob Dylans nicht entstanden.

Diese Aussage von Wolfgang Niedecken über Herrn Robert Allen Zimmermann alias Bob Dylan muss man vielleicht nicht hundertprozentig für bare Münze nehmen, zu verschieden ist letztendlich das Œuvre des BAP-Frontmanns[42] in der Disziplin Deutschsprachige Rockmusik verglichen mit den Wandlungen Dylans vom Folk- und Protestmusiker über den Countrymucker und wiedergeborenen Christen bis zum rockenden Literaturnobelpreisträger auf endloser Konzerttour.

Dass die damalige Journaille den jungen Niedecken oftmals als "kölschen Dylan" zu bezeichnen pflegte, ist zunächst nicht mehr als eine Kuriosität; geschuldet einer tiefsitzenden Einstellung, alles in Schubladen stecken zu müssen, und mangels anderer brauchbarer Bezeichnungen. Der Name Jagger war für Gerd Köster (damals Schröder Roadshow,[38] heute Köster & Hocker)[66] reserviert; Springsteen hätte in der Frühzeit überhaupt nicht gepasst; Guthrie[66] ist hierzulande nur den intimsten Kennern der nordamerikanischen Folkmusik ein Begriff, dabei ist es gerade diesem Singer-Songwriter zu verdanken, dass Bob Dylan überhaupt die Gitarre in die Hand genommen hat.

Das Debütalbum "Wolfgang Niedecken's BAP rockt andere kölsche Leeder" von 1979 lässt allerdings durchaus Parallelen erkennen. Es enthält überwiegend intellektuelle, wortreiche und langatmige (aber nicht langweilige) Songs mit tausendundeiner Strophe. Später werden Dylan-Songs wie "Like A Rolling Stone", "One Too Many Mornings", "Senor" und "Every Grain of Sand" eingekölscht; und es ist wahrscheinlich weder Schicksal noch Dusel, dass "Zofall un e janz klei' bessje Glöck" in ganzen Textpassagen an "Simple Twist of Fate" erinnert.

Niedeckens zweites Solo-Album "Leopardefell" (1995) war dann vollumfänglich eingekölschten Cover-Songs gewidmet. In den launigeren Momenten wird dabei der "Highway 61" zum "Nürburgring", "License To Kill" zu "Nix andres em Kopp", der "Leopard Skin Pillbox Hat" zum "Leopardefellhoot"; und "Vill passiert sickher" ("My Back Pages") mutiert im Jahre 2003 zum Titel des BAP-Films.

Skurril ist womöglich, dass Herr und Frau Niedecken eine ihrer Töchter nach dem Dylan-Song "Isis" benannt haben. Em Äänz?! Ganz in demselben hat Wolfgang Niedecken jedenfalls den ersten Teil der Dylan-Autobiographie "Chronicles" als Hörbuch eingesprochen. Für die mehrteilige ARTE-Dokumentation "Bob Dylans Amerika" begibt er sich höchstpersönlich zu den Wirkungsstätten und Inspirationsquellen des Künstlers in den Vereinigten Staaten.

Diese Exkursion bildet auch den Rahmen für das essayistisch angehauchte Wolfgang Niedecken über Bob Dylan, passenderweise zu Niedeckens 70. Geburtstag im März und Dylans 80. Ehrentag im Mai. Er ist mit Herz und Seele bei der Sache, auch wenn wir mehr über Niedecken & BAP als über Dylan erfahren. (Das ähnelt also dieser Rezension.) Mit Schwänken und Döneken nähert er sich Opus und Vita des "Meisters", der zum richtigen Zeitpunkt am rechten Ort war, um das, was für uns heute wie selbstverständlich zusammengehört, zu vereinen - den Geist der Folkmusik, den Nonkonformismus der Beatniks und den Rhythmus des Rock'n'Roll.

Fazit der Lektüre: Kennt man alles schon, aber nicht aus diesem Blickwinkel, und dadurch unterhaltsam und kurzweilig!




Photo Credits: (1ff) Book Covers, (3) Peter Rohland, (4) Bob Dylan (from website/author/publishers).


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