Ausgabe 24 12/2002

FolkWorld CD-BesprechungenDog

The Inchtabokatables "Ultimate Live"
Label: Strange Ways/Indigo; Way 207/1987-2; 2002; Spielzeit: 123.04 min
Das war's dann wohl. Zumindest vorerst. Die PunkFolkRocker vom Prenzlauer Berg legen nach 11 Jahren erst mal ebensolang eine Pause ein. Die musikalische Formel der Inchtabokatables schien mir im Laufe der Zeit auch etwas leer gelaufen sein. "Ultimate Live" enthält 24 Lieder, Mittschnitte der Wir haben fertich-Tournee, pur, hammerhart und 100% live, die ungeschönte Wahrheit (d.h. etwas dumpfe Klangqualität). Eine Best-Of-Kompilation, von den Anfängen, wo man, wenn man will, folkloristische Anklänge heraushören kann, wie "Three Gipsies", über das brilliante Klassikeralbum "Quiet" bis zum letzten Abgesang. Dazu Coversongs von Nirvana ("Come As You Are") und U2 ("One"). Der Reiz der Inchies lag schon immer darin, dass keine Stromgitarren plärren, sondern der Krach mit verzerrten Geigen und Cello gemacht wird. Gelegentlich obstruses Englisch sei darum auch verziehen, haben sie der Welt doch einen einzigartigen Sound gebracht. Schaun wir mal, ob wir wirklich 11 Jahre warten müssen.
Strange Ways/Indigo
Walkin' T:-)M


Maria Solheim "Barefoot"
Label: Strange Ways/Indigo; Way 196/1459-2; 2002; Spielzeit: 46.57 min
Gibt es mal wieder einen Trend hin zum Leisen, Akustischen? Unsere Welt ist so voller Stimmen und Geräusche. Jeder versucht lauter und lauter zu schreien. Um gehört zu werden. Für mich ist es wichtig, dass Menschen entscheiden können, ob sie etwas hören wollen oder nicht. Musik ist für mich einfach der Weg, vom Herzen zum Herzen zu sprechen - und nicht ständig mit dem Mund zu schreien. Man könnte es jedenfalls glauben, angesichts des Debütalbums der 20jährigen Maria Solheim aus dem Norden Norwegens. Aus einer Kleinstadt, in der, will man nicht vom Fisch leben, zur Klampfe greifen muss. Da ist der erste Track noch in gutem kräftigen Cranberries-Stil, der eigentlich Geschmack auf mehr macht. Doch es geht eher wenig rockig, Suzanne Vega-like, weiter. Akustische Pop-Perlen mit kristallklarer Stimme und sparsamer Instrumentierung. So gesehen ist auch mein Album eher was für Studenten - für Leute, die gelassen und eher nachdenklich orientiert sind. Offenbar aber immer noch nicht einfach genug. Ich habe ehrlich gesagt mir nicht überlegt, in welche Richtung ich gehen will. Ich habe mich von den Melodien der Gitarre tragen lassen. Sehr simpel - ich und meine Gitarre. ,Barefoot' ist schon eine aufwendige Produktion. Beim nächsten Mal wird es wieder mehr akustisch: sparsamer, zurückhaltender.
Strange Ways/Indigo
Walkin' T:-)M


Naftule's Dream "Job"
Label: Tzadik; TZ 7153; 2001; Spielzeit: 55.28 min
The Chicago Klezmer Ensemble "Early Recordings 1987-89"
Label: Oriente; RIENCD26; 2001; Spielzeit: 58.22 min
Wie heißt es im Buch Hiob (d.i. Job, 30:26-31): Ja, Gutes erwartete ich, und es kam Böses. Und ich harrte auf Licht, und es kam Dunkelheit. Meine Eingeweide sind zum Sieden gebracht und haben keine Ruhe. Tage des Elends sind mir entgegengetreten. Trauernd gehe ich einher ohne Sonne ... Und so ist meine Zither zur Trauerklage geworden und meine Flöte zur Stimme der Weinenden. Na, ganz so schlimm ist es dann doch nicht, aber Puristen seien gewarnt: Es könnte sich um ihren musikalischen Alptraum handeln.
Die Bostoner Formation Naftule's Dream um Klarinettist Glenn Dickson ist sicherlich nicht der Traum aller Schwiegermütter, pardon, des durchschnittlichen Klezmerliebhabers. Benannt nach dem berühmt-berüchtigten Großmeister der jiddischen Musik, Naftule Brandwein (-> FW#21, FW#21, FW#22), ist die Traumband das experimentelle alter ego der eher traditionell orientierten Klezmerband Shirim. Die Instrumentation ist - abgesehen von der Stromgitarre - akustisch, auch wenn man das nicht immer glauben will: Akkordeon, Posaune, Tuba, Schlagzeug. Der Klang jedoch, der damit erzeugt wird, ist funkig, psychedelisch und industriell. In einem Moment meint man, in ein Hardrockkonzert geraten zu sein, in einem anderen herrscht die reinste Kakophonie. Ob sich das Naftule erträumt hat? Er hätte es sicherlich gutgeheissen, meint der amerikanische Klezmerkritiker Seth Rogovoy, vielleicht hätte er sich ihnen sogar angeschlossen.
Ganz anders die Experimente des Chicago Klezmer Ensembles um Klarinettist Kurt Bjorling (Brave Old World, Ex-Klezmatics). Sein Ensemble - Klarinette und Violine, Piano plus Bass - spielt nahezu Kammermusik. Traditionelle Melodien als auch Eigenkompositionen sollen wieder so klingen, wie vor der Ära des Grammophons. Obwohl Klezmermusik in Amerika durchaus Entwicklungen vorzuweisen hat, war das gesamte Leben hier einer Bewahrung oder Entwicklung dieser Musik nicht förderlich, so dass nur durch das Zurückgehen auf ihre Quellen in der Alten Welt ein musikalisch zusammenhängendes Bild gezeichnet werden kann. Keine ekstatische Tanzmusik wie der Klezmermusik häufig zugeschrieben, als vielmehr anspruchsvolle Musik zum Zuhören. In Amerika hatte man für einen solch anspruchsvollen Stil wenig Bedarf. Gewidmet ist die Musik Naftules großem Gegenspieler David Tarras (-> FW#21, FW#21, FW#22), der 1989 verstarb, gerade als die frühen Aufnahmen beendet worden sind. Sein Einfluss und der Geist, in dem er Musik gemacht hat, sind in diesen Aufnahmen spür- und hörbar.
Tzadik, Oriente Musik
Walkin' T:-)M


More Maids "Live"
Label: Verlag der Spielleute; CD 0202; 2002; Spielzeit: 63.17 min
Die drei unentwegt in deutschen Landen tourenden Maiden Barbara Coerdt (Gesang, Bouzouki), Marion Fluck (Flöte, Gitarre, Gesang) und Gudrun Walther (Gesang, Fiddle, Akkordeon) nun auch live für zuhause, aufgenommen im im KUZ Esslingen. Beginnend mit "Red is the Rose" mit eigener, wunderbarer Melodie; abschließend mit dem guten alten "Butterfly"-Slipjig, in Improvisationen endend, zelebrieren More Maids (-> FW#4, FW#8, FW#18) Irish Folk made in Germany. Stücke ihrer beiden Vorgängeralben (wie "Ready for the Storm", "Angry", "Closer to Fine"), aber überwiegend Neues ("Exile","Cruel Sister","Susanna Martin"). Und natürlich jede Menge Jigs & Reels. Solide Kost: Gedeihliche Auswahl der Instrumentalstücke und Lieder, passables Spiel, mehrstimmiger Harmoniegesang. Mehr kriegt man auch in Irland nicht geboten.
Verlag der Spielleute
Walkin' T:-)M


Jean Van Adorp "Stenen Man"
Label: Holländerei; HDS 000401; 2000; Spielzeit: 58.50 min
Diese CD ist ein musikalisches Denkmal für alle, die den Krieg nicht überlebt haben, und für die Menschen, die damals viel durchgemacht haben und noch heute damit täglich konfrontiert werden. Es werden aber nicht zuletzt auch die optimistischen, vitalen Elemente ihres Lebens und ihres Kampfes betont, sowie ihre Überzeugung, daß sich Widerstand lohnt, und ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft für die Nachgeborenen. So die Motivation des niederländischen Liedermachers Jean Van Adorp (d.i. Johan Meijer). Wohnhaft unweit von Amersfoort, dem polizeilichen Durchgangslager der NS-Zeit. Das Monument "Der Gefangene vor dem Hinrichtungskommando" steht auf dem Gelände und ziert das Cover von "Stenen Man".
Ausser Hirsch Gliks "Schtil, di Nacht is ojsgeschternet", handelt es sich um taufrische Kompositionen. Etwa eine Hommage an Anne Frank: Viele Niederländer wissen nicht, daß Anne Frank eine Deutsche war, ein Mädchen, das aus Frankfurt mit ihrer Familie nach Amsterdam kam und in ihrem Versteck, dem Achterhuis, verraten wurde, - vermutlich von Niederländern. Als Jüdin wurde sie verfolgt und ermordet - ob als niederländische oder deutsche Jüdin, ist in gewisser Hinsicht nebensächlich. Mit vier (1933) zog Anne Frank von Deutschland nach Holland. Als ich (1956) 4 Jahre alt war, kam ich von Holland nach Deutschland.
Nicht alles ist schwermütig, Rinus van Galen, Insasse des KZ Sachsenhausen, etwa strahlt Zuversicht aus: Heute macht er regelmäßig Urlaub im Berchtesgadener Land. Genauer: er pilgert zu Hitlers Adlersnest auf dem Obersalzberg. Oder wie es im Lied heißt (dt. Übersetzung): Tanzen auf dem Obersalzberg, Tanz am Felsenrand. Tanzen auf den selben Stellen, wo einst Hitler stand, spähend aus dem Adlersnest auf die Welt tief unter sich. Millionen hielt er fest im Griff, einer davon war auch ich. Froh, daß ich damals entkam, daß ich hier noch tanzen kann. Froh, daß ich am Leben blieb und ich seinen Krieg gewann.
"Attention" ist in den Sprachen der seit je mächtigsten Länder Europas: England, Frankreich, Deutschland und Russland. Auch wenn heute noch viel Optimismus erforderlich ist, um zu glauben, daß Geschichte, Kultur und Liebe schwerer wiegen als das, was die Menschen voneinander trennt. Es wäre gut, auf jeden Fall die Sprachen der anderen besser zu verstehen und zu sprechen. Auch Polnisch, Tschechisch, Niederländisch - wir dürfen Europa nicht nur den Großmächten überlassen.
Die Texte sind auf Niederländisch. Es ist aber beabsichtigt ein deutschsprachiges Album aufzunehmen, teils mit denselben, teils neuen Liedern. An dieser CD sollen auch Musiker des russischen Vermicelli Orchesters mitarbeiten. Eine gesamteuropäische Dimension tut sich auf.
Stichting Holländerei (Netzwerk niederländischer Berliner zum Thema Zwangsarbeit)
Walkin' T:-)M


Fairport Convention "The Airing Cupboard Tapes '71-'74"
Label: Talking Elephant/Bellaphon; TECD046; 2002; Spielzeit: 59.00 min
1971 bis 1974 spielten die englischen Folkrocker Fairport Convention in einer Reihe unterschiedlicher Besetzungen, als Gast oftmals Sandy Denny dabei, vergangene und zukünftige Sängerin der Band. Die Aufnahmen der "Airing Cupboard Tapes" stammen aus den privaten Archiven der Bandmitglieder und waren 1981 als official bootleg cassette in limitierter Auflage auf Konzerten und per Mailorder erhältlich. Nun sind sie erstmalig auf CD, remastered, dazu mit vier Bonustracks, verfügbar: Traditionelle Balladen wie "The Hexhamshire Lass" und "The Deserter", Richard Thompsons "Walk Awhile" und "Sloth" (in einer 13-minutigen Version), Sandy Dennys "It'll Take A Long Time" und "Who Knows Where the Time Goes", und Dave Swarbricks Partystück "Hens March Through the Midden/Four Poster Bed". Die countryeske "Ballad of Ned Kelly" stammt aus dem Ned Kelly-Film, in dem Mick Jagger dunnemals den australischen Gesetzesbrecher und Nationalhelden spielte. (Eine Neuverfilmung der Geschichte kommt übrigens nächstes Jahr in die Kinos.) Musikalisch waren Fairport vielleicht nie wieder so spritzig und aufregend wie Anfang der 70er Jahre. Und spannend war es offenbar noch dazu, wie sich Dave Mattacks erinnert: We ended up playing The Troubador, LA, for free as our bar tab at the club extended our fee. Da fühlt man sich doch geradezu an die Blues Brothers in Bob's Country Bunker erinnert und möchte ausrufen: Es sind 700 Kilometer bis Cropredy. Ich habe genügend Benzin, eine halbe Schachtel Zigaretten, es ist dunkel und ich trage eine Sonnenbrille. Hit it!
Talking Elephant; Deutscher Vertrieb: Bellaphon Records.
Walkin' T:-)M


Máirtín O'Connor "Perpetual Motion"
Label: Tara; MOC 001; 1990/2002; Spielzeit: 44.52 min
Lunasa "Lunasa"
Label: Compass; 7 4317 2; 1998/2002; Spielzeit: 51.10 min
Das neueste Album des irischen Akkordeonvirtuosen Máirtín O'Connor ist kaum auf dem Markt (-> FW#22), da steht nun auch die Wiederveröffentlichung des 1990er-Albums "Perpetual Motion" an. Zwischen dem traditionell irischen Album "The Connachtman's Rambles" (1979) und dem vollständig mit Eigenkompositionen versehenem "Chatterbox" (1994), begab sich Máirtín auf eine experimentelle Reise von West nach Ost, Nord nach Süd, Klassik bis Blues: Ein baskischer Fandango, amerikanische Rags, Old-Time, Melodien aus der Ukraine und Bulgarien, Cajun, französische und italienische Walzer und zuguterletzt Nicolo Paganini's "Moto Perpetuo". Máirtín konnte damit locker beweisen, dass es möglich ist, jegliche Stilrichtung auf dem D/D#-Knopfakkordeon zu spielen. Wer da nicht in fortwährende Bewegung verfällt.
Vor fünf Jahren war die Geburtsstunde einer traditionellen irischen Band, von der Matt Molloy einmal sagte, sie erinnere ihn an eine Band, in der einmal gespielt habe. Gemeint war die legendäre Bothy Band. Nach den ersten Schritten Lunasas (-> FW#5) folgten einige Umbesetzungen, bis sich eine stabile Besetzung herausgebildet hat (-> FW#12, FW#21). Jetzt kann man sich das Debüt (-> FW#5) noch einmal remastered zu Gemüte führen. Die damalige Studioversion des Reels "Colonel Frazier" wurde durch eine Liveaufnahme aus der Lobby Bar, Cork, ersetzt und der bisher unveröffentlichte Bonustrack "Jacky Molard's/Hunter's Purse" angehängt. Die damaligen Jünger des keltischen Gottes Lugh waren: Mike McGoldrick (Flöte -> FW#14, FW#23), John McSherry (Uilleann Pipes), Seán Smyth (Fiddle), Donogh Hennessy (Gitarre) und Trevor Hutchinson (Bass -> FW#20). Einerseits handelt es sich fast schon historische Aufnahmen, damals waren die Fünf Wegbereiter, einmal etwas Bretonisches oder ein Klezmerstück in die traditionelle irische Musik einzubringen, andererseits sind sie noch genauso frisch und unverbraucht wie am ersten Tag. Wer das Album bislang noch nicht in seiner Sammlung hat, dies ist essential listening.
Tara Music; Compass Records.
Walkin' T:-)M

Oysterband "Rise Above"
Label: Pläne; 88874; 2002; Spielzeit: 39.06 min
Maybe we don't know right from wrong, maybe we don't know what we're here for, maybe it's time to sing this song, this is an uncommercial song. Alles beim altem bei der Oysterband (-> FW#2, FW#8, FW#10), auch nach einem Vierteljahrhundert Bandgeschichte. Und das ist gut so. Hat sich ein Rezensent doch einmal darüber ausgelassen, dass sich Englands Folkrockband Nr. 1 in Tony Blairs Britannien nicht in Stellung bringt, scheint jetzt alles im Lot. Realpolitik (oder die Politiker) kann ernüchtern. Wie gehabt: eingängige Melodien, schwungvolle Refrains und prägnante Texte. Plus Bearbeitungen der traditionellen irischen Ballade "Blackwaterside" und eine a capella-Version des traditionellen englischen "Bright Morning Star". Und jetzt Schluss, before my mouth gets me into trouble. Denn: It wants a kiss like whisky, a breath of spring, it wants a taste of freedom, it wants everything. Live nachzuvollziehen im Januar auf deutschen Bühnen.
Pläne Records
Walkin' T:-)M


Liz Carroll "Lake Effect"
Label: Green Linnet; GLCD 1220; 2002; Spielzeit: 49.47 min
Chicago, Iren, Musik - fast so etwas wie weisser Schimmel. Nicht nur wegen der jahrzehntelangen musikalischen Sammeltätigkeit von Polizeichef Francis O'Neill, und der Chicago River wird alljährlich an Paddy's Day grün gefärbt. Ein weitere Grund wäre das neue Opus der superben Fiddlerin und Komponistin Liz Carroll. Beinahe schon eine lebende Legende. Der "US National Heritage Fellowship Award" wurde ihr für den großen Einfluss verlieren, den sie auf die traditionelle irische Musik in Amerika ausgeübt hat. Der Burgermeister von Chicago hat en 18. September zum Liz Carroll Day proklamiert. (Eine interessante Alternative, wenn man von Paddy's Day oder Burns-Suppers die Nase voll hat.) Liz hat etwa 170 Tunes komponiert, die in das Repertoire traditioneller irischer Musik gewandert und teils auch aufgenommen worden sind (-> FW#5, FW#21). "Lake Effect" enthält 25 neue Melodien, die man der Liste anfügen kann (sowie drei traditionelle Stücke). Darunter befinden sich einige wahre Perlen, mit feuriger Fiddle eingespielt. Unterstützung fand Liz u.a. in John Doyle (Gitarre, Bouzouki -> FW#17, FW#22), Mairtin O'Connor (Akkordeon -> FW#22, Rezension s.o.), Liz Knowles (Fiddle), und dem Turtle Island String Quartet. Liz bereichert die Tradition, um es mit dem Titel eines ihrer Tunes zu sagen: For the Love of Music. Weiter so.
Green Linnet; deutscher Vertrieb: Sunny Moon.
Walkin' T:-)M


Haugaard & Høirup "Lys/Licht"
Label: GO; GO0501; 2001; Spielzeit: 47.54 min
Wo Licht ist, ist auch Schatten. Wo weiss man das mehr als im Norden Europas. Seit gut einem Jahr hat Dänemark eine, vorsichtig gesagt, rechtspopulistische Regierung. Nun sollte man meinen, dass Konservative Interesse an der Pflege traditioneller Musik hätten. Doch weit gefehlt, Folk scheint immer noch das Prädikat links-alternativ anzuhängen. Jedenfalls ist Schluss mit der Förderung, die so manch dänischen Künstler in unsere Breiten gebracht hat. Die Veranstalter des Tønder-Festivals (-> FW#23) meinen: Unsere Musik muss nun versuchen, unter neuen, raueren Bedingungen fortzubestehen. Es ist noch nicht klar, inwiefern die neue politische Landschaft Folkmusik in Dänemark beeinflussen wird, aber unsere Erfindungsgabe und unser Einfallsreichtum werden auf jeden Fall auf den Prüfstand gestellt werden. Nichtsdestotrotz ist die dänische Folkszene quicklebendig, wie die aktuelle Scheibe des Duos Haugaard & Høirup (-> FW#8, FW#15, FW#15, FW#20, FW#20) wieder einmal unter Beweis stellt.
Die traditionellen und neukomponierten Fiddletunes von Harald Haugaard, darunter einige Stücke des vormaligen Live-Albums, gehen in die Beine und verbreiten die Tanzwut schneller als eine hochansteckende Krankheit. Der Einstieg, "Lys", ist eine Hommage an das Licht (nicht nur das am Ende des Tunnels), ironischerweise gleich darauf gefolgt von einem Reinländer aus der ostjütländischen Stadt Randers: Die Beziehungen zu Norwegen waren selbst nach der Beendigung der dänischen Herrschaft groß, welche in Norwegen als die vierhundertjährige Nacht bekannt ist. Morten Alfred Høirup singt das romantische Liebeslied "Til Rosengården" (Zum Rosengarten) - in Erinnerung an seine eigene Kopenhagener Stammkneipe Rosengårdens Bodega, einst eine belebte Straße, wo die Prostituierten promenierten - und ein weiteres bittersüßes Liebeslied, die populärste Ballade Dänemarks, "Det var en lørdag aften" (In einer Samstag Nacht).
Aber überwiegend ist "Lys" ein Partyalbum, besonders sinnfällig gemacht im "Kalkmanden"-Walzer: Der "kaldemanden" ist der Mann im Dorf, der zusieht, dass die Menschen zu Parties und Festivitäten eingeladen wurden. Er wurde zudem an der Tür postiert, um die Feiernden zu warnen, sollte die Polizei auftauchen, um die Aufführung des verbotenen Menuetts zu beendigen. Nur dem Adel nämlich war das Tanzen des Menuetts erlaubt und sollten die Dorfbewohner irgendwelche Ideen von Gleichheit ... Wenn der `kaldemand' also aufschrie, schalteten die Musiker in einen Walzer um. Und mit einem "Menuet du France", aber so Dänish wie rødgrød med fløde, schließt das Album dann auch.
GO
Walkin' T:-)M


James Scott Skinner "The Strathspey King"
Label: Temple; COMD2084; 2002; Spielzeit: 66.15 min
James Scott Skinner (1843-1927), der selbsternannte Strathspey King, hat ein musikalisches Erbe hinterlassen, das starken Einfluss auf schottisches Fiddlespiel und traditionelle Musik ausgeübt hat. Der legendäre Fiddler aus Aberdeenshire hat über 600 Melodien komponiert, viele werden weiterhin gespielt (z.B. -> FW#2, FW#2, FW#2, FW#12, FW#14, FW#16, FW#20, FW#22, FW#22). Aber James Scott Skinner durfte das Schallplattenzeitalter noch selbst erleben und nahm zwischen 1905 und 1922 selber viele traditionelle Tunes und seine eigenen Stücke auf, sowohl auf Zylinder als auch Schellackplatten. Low-fi, aber jetzt immerhin remastered. (Man kann z.B. ein Originalstück der 70er-Jahre Topic-Veröffentlichung mit einem bearbeiteten Track vergleichen.) Bruce McGregor (-> FW#15, FW#20, FW#23, FW#23) schreibt in der CD-Beilage: Wir werden niemals wirklich wissen, was in Skinner vor sich ging, oder irgendwie verstehen, was ihn antrieb. In vielerlei Hinsicht spielt das aber auch wirklich keine Rolle. Ohne Zweifel besitzt seine Musik die einzigartigen Elemente schottischer Musik: Leidenschaft, Vitalität, Herz und Seele. Und solange diese die Kernelemente traditioneller Musik sind, wird James Scott Skinner auch ,der König' bleiben..
(In der kommenden FolkWorld-Ausgabe #25 wird es einen umfassenden Artikel über James Scott Skinner und seine Musik geben.)
Temple Records; Deutscher Vertrieb: Bellaphon Records.
Walkin' T:-)M


Folkabbestia "Il Senso della Vita"
Label: WeltWunder; 203; 2002; Spielzeit: 58.55 min
Folkabbestia sind sechs junge Herren aus Puglia. Viel südlicher kann man auch in Italien kaum kommen, liegt das Städtchen doch gleich direkt gegenüber der albanischen Küste. Dies mag auch die musikalische Offenheit der Gruppe erklären, denn Geige, Akkordeon, Flöte und viel Blech intonieren nicht nur den heimischen Tarantella, auch keltische und slawische Einflüsse kommern dahergeschlichen. Aber immer vor dem Hintergrund von Rock, Pop und Ska. Mein Italienisch ist nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob die Texte von tragischer Liebe und anderen Abenteuern mit unglücklichem Ausgang handeln, aber mit optimitischer Punkhaltung - und zumindest letzteres dürfte zutreffen. Eine Strophe des Liedes "La Fuga in Fa" (Flucht in F Dur): In Casablanca war Ali ein renommierter Virtuose. Er schätzte Bach und Beethoven so sehr, dass er in Berlin leben wollte. Aber als erstes traf er zwei Skinheads mit Knüppeln. Er sagte, ,Meine sehr verehrten Herren, wie Sie trage ich Wagner im Herzen'. Aber Ali bevorzugte Andante con brio, nicht diese Melodie. Der "Sinn des Lebens", so die Übersetzung des Titels, ist eine Zusammenstellung der bislang nur in Italien erhältlichen Alben "Breve Saggio" and "Se La Rosa". Folkabestia sind in erster Linie wohl ein hervorragende Liveband. Die Tanzwut ist vorprogrammiert. Ansonsten könnte ich persönlich auf Neuauflagen wie "Azzurro" gut verzichten. Davon abgesehen ist in jedem Fall ein großes Potential verhanden. Also nicht locker lassen!
WeltWunder; Vertrieb: Sunny Moon.
Walkin' T:-)M


V/A "Travellin' Companion 3 - A Musical Journey to Germany"
Label: WeltWunder; 503-2; 2002; Spielzeit: 56.38 min
Der "Travellin' Companion 3: Germany" (Teil 1 und 2 behandeln Polen und Italien) will einen Überblick über die bundesdeutsche Welt- und Roots-Szene in allen seinen Facetten geben. Ob man dies überhaupt kann, sei einmal dahingestellt. Ken Hunt ist zuzustimmen: Deutschland [ist] inzwischen Heimat für eine beträchtliche Vielfalt, oft verwurzelt in regionaler Kultur, manchmal im Eigengewächs Schlager, oder auch in einheimischen Tanzformen wie dem Zwiefachen. Aber natürlich auch in Kulturimporten wie HipHop, Klezmer oder Tango. Wenn die Musik[en] ... etwas bezeugen, dann ist es die Durchlässigkeit von Deutschland's kulturellen Grenzen. Seit der Wiedervereinigung scheint sich die populäre Musik wie auch die Folkmusik immer schneller weiterzuentwickeln. Wo anfangen? Auch wenn eine schlichte Aufzählung nicht unbedingt für die Phantasie (aber die Schlitzohrigkeit) des Rezensenten sprechen, so mögen sie vielleicht doch die etwaige Kaufentscheidung des Leser in entscheidendem Maße beeinflussen (man darf auch ruhig den entsprechenden Links zu den jeweiligen FolkWorld-Rezensionen folgen): 17 Hippies, Das Blaue Einhorn (-> FW#7, FW#11, FW#13), Di Grine Kuzine (-> FW#21), Bayrisch Diatonischer Jodelwahnsinn (-> FW#12), Jams (-> FW#2, FW#3, FW#4), Element of Crime, Lecker Sachen (-> FW#5, FW#6, FW#7, FW#10, FW#18, FW#23), Erci E, Grenzgänger (-> FW#21), Elster Silberflug, U.L.M.A.N., Bavario (-> FW#20), Mahones (-> FW#5, FW#22), Polkaholix, Leipziger Folksession Band (-> FW#5, FW#15), Schäl Sick Brass Band (-> FW#23) und die BandonionFreunde Essen. Na, lohnt sich die Anschaffung? Zumindest zum Kennenlernen? Dies ist Musik in einer Tradition und gleichzeitig außerhalb davon. Musik im Aufbruch. Die gute Nachricht ist, daß die alten Zeiten vorüber sind.
WeltWunder; Vertrieb: Sunny Moon.
Walkin' T:-)M


Rambling Rovers "Weather Reports"
Label: Alister Folk; ARCD001116; 2002; Spielzeit: 59.53 min
Die Rambling Rovers aus Trier sind eine der vielen deutschen Irish Folk Bands, die sich in den letzten Jahren auf CD "verewigt" haben. Und wie bei vielen anderen Bands frage ich mich: Musste das wirklich sein?
Nun, die Band hat schon eine relativ lange Bandgeschichte, und sie hat sich lokal auch einen Ruf als gute Party-Band erspielt. Musikalisch sind die Rovers alles in allem gar nicht so schlecht; es ist vor allem der Gesang, der die CD heruntersetzt. Der Gesang ist alles in allem relativ unmelodisch ist; ausserdem hat der Sänger in den englischen Liedern einen eindeutigen deutschen Dialekt. Die meisten Lieder sind traditionelle Lieder aus Irland und Schottland; hinzu kommen zwei mittelalterliche Lieder sowie eine Eigenkomposition im Trierer Dialekt. Der einzige Title dieser CD, der mich aufhorchen liess, ist der Titeltrack, "Weather Reports", ein ruhiges Instrumentalstück, das zeigt, dass in den Rovers instrumental einiges Potential steckt.
Als Liveband mögen die Rovers gute Unterhaltung bieten; aber wie gesagt, eine CD wäre nun wirklich nicht nötig gewesen....
Band/Musiker-Homepage: www.rambling-rovers.de
Michael Moll


Vándorvokál "Rózsát ültettem"
Label: Wildboar Music; WBM21032; 2002; Spielzeit: min
Vándorvokál sind vier junge Ungarinnen, die ungarische Lieder auf traditionelle Weise singen. Alle vier haben kraftvolle, etwas schrille Stimmen, die sie teils im Chor, teils solo einsetzen. Etwa die Hälfte der Lieder sind a capella; bei den anderen werden die Frauen begleitet von u.a. Violine, Bratsche, Akkordeon, Dulcimer, Klarinette etc. Die Lieder stamme aus Ungarn und benachbarten slawische Ländern (Slowakien, Bulgarinen, Serbien, Kroatien, Moldavien). Alles ist sehr traditionell arrangiert, und die schrillen Stimmen sind für nicht an slawischen Gesang gewohnte Ohren ziemlich bald harte Kost. Nur etwas für Fans osteuropäischen weiblichen Gesangs.
Kontakt zum Label: erwin.libbrecht@skynet.be
Michael Moll


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Zum Inhalt der FolkWorld Nr. 24

© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 12/2002

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