FolkWorld #45 07/2011
© Jens-Peter Müller

Einfach, aber doch komplex

Gabriel Fliflet

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Gabriel Fliflet - folkBALTICA, 06.-10. April 2011.

Jens-Peter Müller: Guten Morgen, Gabriel Fliflet. Wir treffen uns hier in einem besonderen Teil von Bergen. Du bist ein großer Bergen-Fan.

Gabriel Fliflet: Wir sind mitten in der Bergener Altstadt. Bergen ist etwas mehr als 900 Jahre alt und bekannt für seine lange Geschichte über den Handel mit Kaufleuten aus ganz Europa. Die Hanse war schon vor 400 oder 500 Jahren hier. Bergens Altstadt besteht auch heute noch aus Unmengen kleiner Holzhäuser, die um den Hafen herum gebaut worden sind. Geht man weiter in die umliegenden Stadtviertel werden die Gassen sehr steil, weil Bergen von sieben Gebirgszügen umgeben ist. Bis ich sechs Jahre alt war, habe ich in Lund, in Skåne, in Südschweden gewohnt. Von einem Umzug war ich erst nicht begeistert. Aber ich habe Bergen lieben gelernt. Die Bergener sind sehr anders als die „normalen“ Norweger, wir reden laut und viel und andere Norweger finden, dass wir Bergener etwas enervierend sind, aber die sind nur neidisch.

Durch den jahrhundertelangen Handel und die Lage direkt am Meer ist Bergen sehr weltoffen. Inwiefern ist dies auch ein Hintergrund deiner Musik?

Diese Weltoffenheit hat mich als Musiker sehr geprägt. Ich habe schon sehr verschiedene Musikstile gespielt, norwegische Tanz- und Folkmusik, einige Jahre habe ich in einem griechischen Orchester musiziert, ich habe mit jugoslawischen und schottischen Musikern gearbeitet. Letztes Jahr im Dezember war ich der Musiker und Sänger für finnische Musiker, da habe ich finnische Lieder gesungen. Ich habe kaum etwas von den Texten verstanden, aber das Publikum war begeistert und hat gelacht- ich denke, nicht über mich, sondern über die Texte.

Du hast aber auch finnische Familienbeziehungen.

Das stimmt, meine Mutter gehört zur schwedischsprachigen Minderheit in Finnland. Mein Vater war Norweger. Er war Linguist, er sprach fließend Deutsch, Italienisch, Ungarisch, Schwedisch, Dänisch und Finnisch. Ich bin in einem Haus aufgewachsen, wo man viele Sprachen hören konnte und genauso viele verschiedene Typen von Musik. Wenn ich Musik komponiere habe ich viele Quellen, aus denen ich Ideen und Energie schöpfe.

Gabriel Fliflet

Deine neue CD „Åresong“ ist im Auftrag der Festspiele Bergen entstanden, die als das renommierteste und innovativste Kulturereignis in Nordeuropa gelten. Wie hat sich die Musikkultur Norwegens in den letzten Jahren entwickelt?

Wir mögen die Vorstellung, dass Bergen als eine viel kleinere Stadt als Oslo, die in den Bereichen Verwaltung, Politik und Wirtschaft nicht so viel zu sagen hat, lockerer und ausgefallener ist. In Norwegen existieren die Grenzen der verschiedenen Musikstile nicht mehr wie vor 20, 30, 40 Jahren. In Norwegen haben wir auch nicht diese große alte starke Hochkultur wie in Deutschland und Zentraleuropa. Unsere Eltern und Großeltern waren fast alle Bauern oder Fischer. Und das ist vielleicht die Ursache für die Lust am Experimentieren. Wenn du Jazz spielst, kannst du auch Folkmusik spielen. Gerade in den letzten Jahren sind diese Grenzen weicher geworden. Die Musiker haben Respekt voreinander, auch wenn sie einen ganz anderen Stil spielen.

Bergen erscheint dem Besucher mitunter wie ein kosmopolitisches Dorf. Kanntest du den Autor der Liedtexte, Jon Fosse, schon vor eurer Zusammenarbeit?

Nein, Jon Fosse und ich haben uns vorher nicht gekannt. Die Festspiele in Bergen haben Fosse eingeladen, ob er die Texte schreiben will, danach haben sie mich gefragt, ob ich dazu die Musik machen möchte. Ich habe 35 kurze Liedtexte bekommen, zu denen ich etwa 25 Melodien komponiert habe, von denen ich 10 aber wieder verworfen habe. Bei der Uraufführung vor 2 Jahren in der Grieghalle waren es dann 15 Lieder. Fosse beschreibt einen Mikrokosmos. Ein Lied handelt von einem Mädchen, eins von der See, eins von einem altem Mann. Sie beschreiben jeweils kleine Teile der Welt.

Kraja, folkBALTICA 2011

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Nach welchen Kriterien hast du die 15 Lieder ausgewählt?

Ich habe die Lieder danach ausgewählt, wie sie mir gefallen. Ich bin ein Folk-Musiker, ich benutze keine Noten, ich bin kein wirklicher Komponist. Ich habe diese Texte gekriegt, habe sie ausgedruckt, habe sie auf dem Klavier platziert. Ich habe alles schnell durchgelesen und bin wieder vorn angefangen. Ich sitze da und warte, dass mir ein Motiv einfällt. Manche Lieder sind in wenigen Minuten entstanden. Ich wundere mich immer, wo die Melodien „vorher“ sind. Existieren sie irgendwo vorher oder werden sie ganz neu erschaffen? Wenn ich dann eine schlechte Nacht habe, in der mir diese Melodie nicht aus dem Kopf geht, ist das ein gutes Zeichen. Wenn ich einen guten Schlaf habe, dann muss ich sie wegwerfen.
Mein Ideal ist, eine Melodie zu erschaffen, die melodisch, aber unvorhersagbar ist, sie sollte einfach, aber doch komplex sein.

„Bergens Tidende“ hat geschrieben, dass die Lieder lange Zeit Bestand haben werden, und viele Leute diese Lieder singen werden. Das ist doch ein großes Lob.

Wenn andere Leute deine Lieder singen, ist es das Beste was geschehen kann. Man sollte mehr singen.

Eine Melodie hast du besonders verewigt.

Ja, zum Windsong, dem Lied vom Wind, habe ich mich von einer Spieluhr aus Deutschland inspirieren lassen. In Deutschland gibt es einen Handwerksbetrieb, der Spieluhren produziert. Ich habe 1000 von diesen Spieluhren bestellt und sie vor der Uraufführung in der Grieghalle unter die Stühle der Besucher platziert. Ganz heimlich natürlich. Nachdem die Uraufführung zuende war, habe ich auf meiner Spieluhr eine Zugabe gegeben. Das klang sehr leise auf der großen Bühne der Grieghalle. Dann habe ich den Leuten gesagt, dass unter den Stühlen eine Überraschung lag. 1000 Leute haben dann auf diesen Spieluhren gespielt. Zum ersten Mal in der Weltgeschichte war hier ein unglaublich seltener, faszinierender Klang zu hören. Das ist eine schöne Erinnerung.

Fiolministeriet, folkBALTICA 2011

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Die Musiker von „Åresong“, die du selbst ausgewählt hast, kommen alle aus Bergen. War das eine Bedingung der Bergener Festspiele?

Das war keine Bedingung der Festspiele Bergen, aber ich kenne diese Leute seit langem und bewundere sie. Sie wohnen alle hier und haben ganz verschiedene musikalische Hintergründe. Per Jørgensen ist einer der besten Improvisations- und Jazzmusiker Norwegens, Benedicte Maurseth, die 2010 auch in Rudolstadt aufgetreten ist, ist eine Folkmusikerin, die auch die alte Hardangergeige spielt und sensationell singt. Dazu habe ich zwei junge Männer ausgesucht, die aus dem Rock- und Bluesbereich kommen.

Gibt es schon eine Rückmeldung von Jon Fosse?

Die Musik hat Jon Fosse gefallen.

In seinen Texten kann man die Musikalität hören. Hat dir das beim Komponieren der Lieder geholfen?

Auf jeden Fall. Fosse liebt Musik. Als er zwölf Jahre alt war, hat er mit einer Popband zum ersten Mal auf der Bühne gestanden. In diesen Tagen wird er mit dem Ibsen-Preis ausgezeichnet.

Fosse ist in Deutschland unglaublich populär. Ich bin gespannt, ob auch in Deutschland eine Übersetzung erscheinen wird.

In Norwegen sind die Liedtexte in einem Buch veröffentlicht worden. Ich persönlich glaube aber, dass sie erst gesungen ihre Wirkung entfalten, nicht wie gewöhnliche Gedichte. So ein Gedicht kann auch allein stehen, vielleicht wird das Gedicht sogar ärmer wenn man Musik dazu macht, aber einen Liedtext muss man mit Musik betrachten.

Im letzten Jahr war der samische Musiker „Áilloš“, Ingor Ántte Áilu Gaup, bei der folkBALTICA zu Gast. Du hast auch schon mit samischen Musikern zusammen gearbeitet. Welche Bedeutung hat diese Richtung traditioneller Musikkultur für dich?

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Ich höre für mich persönlich nicht sehr oft samische Musik, weil sie mir zu fremd ist. Áilloš aber ist ein hervorragender Vokalist, er sollte ein Weltstar sein, er hat so einen persönlichen Ausdruck in der traditionellen Weise. Für mich ist eine schöne Melodie die, die mir am besten gefällt.

Größter Festivalerfolg bisher: Weitaus mehr Besucher als in den Vorjahren feierten 148 Künstlerinnen und Künstler aus sieben Ländern rund um die Ostsee

Mit einem umjubelten Konzert von 90 jungen Sängerinnen aus fünf europäischen Kulturhauptstädten des Ostseeraumes ging die 7. folkBALTICA in der bis in den letzten Winkel gefüllten Flensburger Marienkirche zu Ende.

Benedicte Maurseth, folkBALTICA 2011

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Die Veranstalter ziehen eine äußerst positive Bilanz : 5.750 Besucher kamen zu 42 Veranstaltungen an 30 verschiedenen Spielstätte in Flensburg, Sønderborg und der deutsch-dänischen Region Sønderjylland-Schleswig. Im vergangenen Jahr waren es 5.500 Besucher bei 49 Veranstaltungen. 23 ausverkaufte Konzerte bedeuten auf der deutschen Seite eine Auslastung von 100%. Auch die 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer an den 5 Workshopangeboten sind ein enormer Erfolg.

Auch nördlich der Grenze in Dänemark wächst mit 1.900 Besuchern die Akzeptanz für das Festival. 800 Zuhörer erlebten den festlichen Auftakt „Kulturhauptstädte vokal“ im Sønderborger Alsion.

„Diese überwältigende Publikumsresonanz zeigt, dass die folkBALTICA mit dem Konzept, neue Hörererlebnisse zu vermitteln, voll in der Bevölkerung und in einem breiten Interessentenkreis angekommen ist,“ meint der künstlerische Leiter Jens-Peter Müller. „Die siebte folkBALTICA sollte etwas Besonderes werden, und sie hat alle unsere Erwartungen von der Publikumsresonanz und der künstlerischen Qualität noch übertroffen.“

Zum ersten Mal gab es keinen Länderschwerpunkt. „Das breitgefächerte Thema „Europäische Kulturhauptstädte des Ostseeraums“ hat den Nerv des Publikums getroffen und zeigt, dass die Bewerbung Sønderborgs zusammen mit Flensburg und der Region Sønderjylland-Schleswig zur Europäischen Kulturhauptstadt 2017 die Menschen nördlich und südlich der Grenze bewegt.“

Höhepunkte des Festivalprogramms waren das Deutschland-Debut von „Ǻresong“ nach Texten des norwegischen Dramatikers Jon Fosse, die Auftritte der „Nordic Masters“ von der Gruppe “Blink“, sowie die beiden zentralen Themenkonzerte „Kulturhauptstädte Vokal“ im Sønderborger Alsion und in der Marienkirche in Flensburg. Zum Erlebnis der Künstler, die an diesem Konzert teilnahmen, sagte die Sängerin Lisa Lestander vom Folkquartett „Kraja“ aus dem schwedischen Umeǻ während der Veranstaltung: „Mit so vielen Sängerinnen, die so unterschiedliche Musik auf diesem hohem Niveau machen, auf einer Bühne zu stehen, das erlebt man vielleicht nur einmal im Leben.“


Photo Credits: (1) Gabriel Fliflet, (6) Karl Seglem (by Andreas Reese); (2) Gabriel Fliflet „Åresong“ (by Gabriel Fliflet); (3) Kraja, (4) www.fiolministeriet.dk (by Eiko Wenzel); (5) folkBALTICA logo (by folkBALTICA); (6) Benedicte Maurseth (by Dagmar Hinrichsen).


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