FolkWorld #52 11/2013
© Walkin' T:-)M

Regilaul - Lieder aus der Luft

Regilaul - Lieder aus der Luft

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Regilaul - Lieder aus der Luft
Dokumentarfilm
(DVD, 16:9, Dolby Digital 5.1, Estnisch mit dt., frz. und engl. Untertiteln)
Buch & Regie: Ulrike Koch
Laufzeit: 104 Minuten
Bonus: Trailer, Unveröffentlichte Szenen, Film Premieren, Fotogalerie
© 2011 Doc Productions/Columbus Film AG


www.regilaul-film.com

Musik in unserer Muttersprache (Mikk Sarv)

»Der Begriff regilaul scheint sich herzuleiten von dem Wort regi (Schlitten), es bezeichnet das älteste Transportmittel. Ein Schlitten würde jemanden über einen sumpfigen Flecken Land bringen, selbst im Sommer, während ein Wagen hoffnungslos steckenbliebe. Im Winter würde ein Schlitten Dich geradewegs über Sümpfe und Seen, entlang der Flüsse und Winterwege bringen. Schlitten würden Händlern helfen, tausende von Kilometern zu überbrücken auf ihren Reisen und die Menschen von Küste zu Küste zu verbinden. Schlitten hinterlassen zwei Spuren, die auf den Horizont zulaufen, über die weite Ebene. Diese Spuren sind sich immer nahe, aber sie können sich nie berühren. Ein Lied würde helfen, eine lange Schlittenreise zu verkürzen, die Reisenden wach zu halten und ihren Geist zu beleben ...

Estnischer regilaul ist ein sehr altes und machtvolles Kommunikationsmittel für eine eigenwillige Nation mit dem Rest der Welt. Um es zu benutzen, muss man die Ewigkeit umarmen und in der Seele das Bild eines Schlittens aufrufen, dessen beide Spuren zum Horizont führen. In der Nähe jedes Verses gibt es einen zweiten, der auf etwas andere Art und Weise in die gleiche Richtung führt. Jeder Vers bewegt sich in seiner Spur entlang, vorangezogen durch Worte, die ähnliche Klänge enthalten ...«

Folk on the Silver Screen: Mittels einer Singenden Revolution hat sich die kleine baltische Nation Estland am Ende der 1980er-Jahre von der lähmenden Sowjetherrschaft befreit. Damit wurde auch eine seit Jahrtausenden im kulturellen Untergrund Estlands schlummernde Musikform, Regilaul, wiedererweckt, die nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Renaissance erlebt.

Regilaul besteht aus Versen, und ein Vers hat acht Silben. Diesen acht Silben entspricht eine Melodiereihe aus acht Tönen, erläutert der estnische Komponist Veljo Tormis: Sehr einfach: "Kui ma hakkan laulemaie. Wenn ich anfange zu singen." Dies ist der Grundbaustein von Regilaul.

Das Themenspektrum ist vielfältiger als die musikalische Form: Arbeits- und Spiellieder, Balladen und Klagen, Zaubersprüche und Epen.

Regilaul entstammt dem alten, animistischem Denken verhafteten vorchristlichen Weltbild und unterscheidet sich dadurch in bedeutendem Maße von neuzeitlichen Musikformen, die insbesondere durch deutsche Einflüsse ins Baltikum gelangt sind. Im finnischen Nationalepos, der "Kalevala", existiert eine sehr ähnliche Gesangsform, dort Runo-Lieder genannt.

Wenn ich, der Wolf, sterben würde
Der Bär aus der Welt verschwände
Hätte ich keinen Beerdiger
Der Wolf keinen der ihn bettet.
Wenn ich, der Wolf, sterben würde
Der Bär aus der Welt verschwände
Einen Monat würde ich zu Hause bleiben     
Den zweiten in meiner Stube
Den dritten in der Kammer.
Dann werde ich, die Gans, stinken
Ich, die Schwanengans, riechen
Ich, der Seetaucher, Geruch verbreiten.
Dann werden die Angehörigen gesucht.
Was stinkt die Gans hier?
Es ist nötig, den zu beerdigen.
Dann wurde ich ins Loch gelegt.
Es gingen ein, zwei Jahre vorbei
Es kam die liebe Saatzeit
Saatzeit, Pflügzeit
Und obendrein die lange Hochzeitszeit.
Wo ist unser lieber Sohn?
Wo ist der Unsrige und Eigene?
Wer singt die Lieder mühelos?
Wer stellt die Worte mutig?

Regilaul - Lieder aus der Luft

Gedanken der Regisseurin Ulrike Koch

»In Regilaul begegnet uns eine aus dem eigenen, tief verwurzelten Brauchtum und Gesang erwachsende Überlebenskraft. Die Neubelebung dieser Liedkultur, ihr Platz im heutigen Alltagsleben, bis hin zu den von Veljo Tormis auf der Grundlage des alten Liedguts komponierten Zyklen erlauben eine lebendige Sicht auf die Frage der kulturellen Identität in einem Zeitalter, in dem die Unterschiede so schnell dahinschmelzen wie unsere Gletscher ...

In Regilaul begegnet uns ein Lied von eigentümlicher Stärke. Die Wiederholungen der Achtsilbenverse und die Veränderungen, die aus den Wiederholungen hervorgehen, entwickeln einen Sog und führen zu einem inneren Wiedererkennen. Die Lieder sind freudig und scheinen erfüllt von Licht und der Weite des hohen Nordens. Sie sind aber auch tief, geheimnisvoll und vielschichtig wie die jahrtausende alten Moorlandschaften ... Weite, bis heute nicht wirklich enträtselte Horizonte tun sich auf, deren historische Bezüge in ferne östliche Regionen zu reichen scheinen ...

In Estland ist das Volkslied kein harmloses, unzeitgemässes Relikt aus einer überkommenen Zeit. Vielmehr trägt es grossen Reichtum und eine Art Sprengkraft in sich, mit der eigentümlichen Fähigkeit, Traumata zu verwandeln und Mut zu machen zu persönlicher und kollektiver Identität ...«

Regilaul fliesst ohne Unterbrechung, es rollt ohne Pause. Die einfachen Rhythmen und kurzen Melodien dauern endlos an. Der monotone, aber eindringliche Klang des rhytmischen Atmens scheint eine bezaubernde Wirkung zu haben. Das hat die in der Schweiz lebende Filmmacherin Ulrike Koch fasziniert, die bereits zuvor in "Die Salzmänner von Tibet" (1997) und "Ässhäk – Geschichten aus der Sahara" (2003) die mündliche Überlieferung von Traditionen und Ritualen, Geschichten und Legenden in Gesangsform ergründet hat. Mit dem Regilaul hat Ulrike Koch etwas Analoges auch im europäischen Estland entdeckt.

Meelika Hainsoo Lauri Õunapuu

Meelika Hainsoo @ FolkWorld:
FW#38, #38, #44

Eine musikalische Reise zwischen Schamanismus und Moderne. Während in meinem Kamin das Feuer knistert und wohlige Wärme verströmt, fängt die Kamera die schneeverschneite Landschaft Estlands ein (leider ist vor dem weißen Schnee die ebenfalls weiße Schrift der Untertitel teilweise nur schwierig zu lesen) und versucht mit eindringlichen Bildern Herz und Hirn zu erreichen.

Die Bildsprache ist - wie Regilaul - statisch und sich beinahe endlos wiederholend. Der Erzählfluss ist gelassen und geruhsam; die Erzählung will kaum ein Ende finden und zieht gerade dadurch den Zuschauer in den Bann.

Einer der wichtigsten Protagonisten der Dokumentation ist der bereits genannte estnische Komponist Veljo Tormis. Seine eigene Lebensreise, spirituell wie künstlerisch, hat ihn dahin geführt, traditionelle Weisen und zeitgenössische Kompositionstechniken im Chorgesang einzusetzen.

Die Folk-Sängerin Meelika Hainsoo hingegen verbindet mit der seit über einem Jahrzehnt bestehenden, in Estland sehr renommierten Gruppe Vägilased Regilaul (und andere traditionelle estnische Musikformen) mit Harmonien und Rhythmen aus der Jazz-und Rockmusik.

Lauri Õunapuu wiederum ist ein junger Sänger, der die mit Regilaul verbundenen kulturellen Werte noch im 21. Jahrhundert zu leben versucht. Kein Widerspruch dazu ist, dass sich der Multi-Instrumentalist mit "torupill" (Dudelsack) und "kannel" (Zither) in die Ethnometal-Band Metsatöll einbringt.

Wenn im Abspann des Films dann die traditionelle estnische Zither erklingt, hat der Zuschauer eine magische Reise hinter sich und, so die Intention der Autorin und Regisseurin, für mehr als anderthalb Stunden den schnöden Alltag vergessen.


Photo Credits: (1)-(2) 'Regilaul - Lieder aus der Luft', (3) Meelika Hainsoo, (4) Lauri Õunapuu (unknown / website).


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