Folk on the Silver Screen: Mittels einer Singenden Revolution hat sich die kleine baltische Nation Estland am Ende der 1980er-Jahre von der lähmenden Sowjetherrschaft befreit. Damit wurde auch eine seit Jahrtausenden im kulturellen Untergrund Estlands schlummernde Musikform, Regilaul, wiedererweckt, die nun zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine Renaissance erlebt.
Regilaul besteht aus Versen, und ein Vers hat acht Silben. Diesen acht Silben entspricht eine Melodiereihe aus acht Tönen, erläutert der estnische Komponist Veljo Tormis: Sehr einfach: "Kui ma hakkan laulemaie. Wenn ich anfange zu singen." Dies ist der Grundbaustein von Regilaul.
Das Themenspektrum ist vielfältiger als die musikalische Form: Arbeits- und Spiellieder, Balladen und Klagen, Zaubersprüche und Epen.
Regilaul entstammt dem alten, animistischem Denken verhafteten vorchristlichen Weltbild und unterscheidet sich dadurch in bedeutendem Maße von neuzeitlichen Musikformen, die insbesondere durch deutsche Einflüsse ins Baltikum gelangt sind. Im finnischen Nationalepos, der "Kalevala", existiert eine sehr ähnliche Gesangsform, dort Runo-Lieder genannt.
Wenn ich, der Wolf, sterben würde Der Bär aus der Welt verschwände Hätte ich keinen Beerdiger Der Wolf keinen der ihn bettet. Wenn ich, der Wolf, sterben würde Der Bär aus der Welt verschwände Einen Monat würde ich zu Hause bleiben Den zweiten in meiner Stube Den dritten in der Kammer. Dann werde ich, die Gans, stinken Ich, die Schwanengans, riechen Ich, der Seetaucher, Geruch verbreiten. Dann werden die Angehörigen gesucht. Was stinkt die Gans hier? Es ist nötig, den zu beerdigen. Dann wurde ich ins Loch gelegt. Es gingen ein, zwei Jahre vorbei Es kam die liebe Saatzeit Saatzeit, Pflügzeit Und obendrein die lange Hochzeitszeit. Wo ist unser lieber Sohn? Wo ist der Unsrige und Eigene? Wer singt die Lieder mühelos? Wer stellt die Worte mutig?
Regilaul fliesst ohne Unterbrechung, es rollt ohne Pause. Die einfachen Rhythmen und kurzen Melodien dauern endlos an. Der monotone, aber eindringliche Klang des rhytmischen Atmens scheint eine bezaubernde Wirkung zu haben. Das hat die in der Schweiz lebende Filmmacherin Ulrike Koch fasziniert, die bereits zuvor in "Die Salzmänner von Tibet" (1997) und "Ässhäk – Geschichten aus der Sahara" (2003) die mündliche Überlieferung von Traditionen und Ritualen, Geschichten und Legenden in Gesangsform ergründet hat. Mit dem Regilaul hat Ulrike Koch etwas Analoges auch im europäischen Estland entdeckt.
Eine musikalische Reise zwischen Schamanismus und Moderne. Während in meinem Kamin das Feuer knistert und wohlige Wärme verströmt, fängt die Kamera die schneeverschneite Landschaft Estlands ein (leider ist vor dem weißen Schnee die ebenfalls weiße Schrift der Untertitel teilweise nur schwierig zu lesen) und versucht mit eindringlichen Bildern Herz und Hirn zu erreichen.
Die Bildsprache ist - wie Regilaul - statisch und sich beinahe endlos wiederholend. Der Erzählfluss ist gelassen und geruhsam; die Erzählung will kaum ein Ende finden und zieht gerade dadurch den Zuschauer in den Bann.
Einer der wichtigsten Protagonisten der Dokumentation ist der bereits genannte estnische Komponist Veljo Tormis. Seine eigene Lebensreise, spirituell wie künstlerisch, hat ihn dahin geführt, traditionelle Weisen und zeitgenössische Kompositionstechniken im Chorgesang einzusetzen.
Die Folk-Sängerin Meelika Hainsoo hingegen verbindet mit der seit über einem Jahrzehnt bestehenden, in Estland sehr renommierten Gruppe Vägilased Regilaul (und andere traditionelle estnische Musikformen) mit Harmonien und Rhythmen aus der Jazz-und Rockmusik.
Lauri Õunapuu wiederum ist ein junger Sänger, der die mit Regilaul verbundenen kulturellen Werte noch im 21. Jahrhundert zu leben versucht. Kein Widerspruch dazu ist, dass sich der Multi-Instrumentalist mit "torupill" (Dudelsack) und "kannel" (Zither) in die Ethnometal-Band Metsatöll einbringt.
Wenn im Abspann des Films dann die traditionelle estnische Zither erklingt, hat der Zuschauer eine magische Reise hinter sich und, so die Intention der Autorin und Regisseurin, für mehr als anderthalb Stunden den schnöden Alltag vergessen.
Photo Credits:
(1)-(2) 'Regilaul - Lieder aus der Luft',
(3) Meelika Hainsoo,
(4) Lauri Õunapuu
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