FolkWorld #73 11/2020
© Walkin' T:-)M

Poesie und Protest

Sang & Klang Festival

"Rudelgucken statt Rudolstadt"

"#Alarmstufe Rot"


www.sangundklang.com



Der Fanshop zum Festival

Der Frust über den kulturarmen Sommer aufgrund der Corona-Pandemie ist die Initialzündung für eine längst überflüssige Idee gewesen. Statt Rudolstadt und Bardentreffen fand am 11. Juli 2020 das Sang & Klang Festival in den Gefilden des Internets statt.

Michael Zachcial (Die Grenzgänger)

Sang & Klang ist der Name und gleichzeitig die Maxime des Events; ein Abbild eines breiten und bunten Spektrums, das von traditioneller Tanzmusik und alten Balladen bis zu den Verbalergüssen der gegenwärtigen Liedermacherbewegung reicht. Dabei soll nicht nur dem musikhungrigen Publikum eine Freude gemacht werden, sondern dieses darf spenden und der Erlös wird zwischen den Musikern und diversen Organisationen, die Künstler, Techniker und Veranstaltungshelfer in existenziellen Schwierigkeiten unterstützen, geteilt.

Ich freue mich auf dieses Festival. Nicht nur wegen Corona, auch aus persönlichen Gründen ist in letzter Zeit Live-Musik bei mir viel zu kurz gekommen. Ich klicke mich auf Youtube dazu; von Face und Insta bin ich kein Freund und direkt auf der Sang-und-Klang-Website stockt das Bild. Auch auf Youtube dauert es eine ganze Weile bis ich aus was-weiss-ich-für-Gründen eine mehr-oder-weniger-stabile Verbindung erhalte. (Digitale Wüste Deutschland!) So erlebe ich nur noch das Ende der Feuersteins. Aber ich kenne die Familienband aus dem Ruhrpott von ihrer letzten EP "TANZ!", eine quirlige Mischung aus Folk und Country.[71] Heute wird zu viert musiziert, eine Feuersteinin sitzt in Glasgow fest; und die Geigerin trägt eine Maske wegen der anderen Corona-Bestimmungen in Niedersachsen gegenüber Nordrhein-Westfalen.

Mike Kamp, seines Zeichens Folker-Herausgeber, führt durch das Programm. Es folgen halbstündige Sets, die von den Künstlern vorproduziert worden sind. Gemeinsam sind den Teilnehmern, dass sie um das deutschsprachige Liedgut und das musikalische Vermächtnis zwischen Wangerooge und Watzmann bemüht sind.

Ein schönes Beispiel ist der nächste Akt. Bube Dame König,[70] sprich Gesang, Drehleier und Gitarre haben es sich in einem Wohnzimmer in Halle an der Saale bequem gemacht. Sie eröffnen den Reigen mit einem Lied über das Flirten aus dem 15. Jahrhundert. Es folgen das etwas jüngere, aber seit dem Abfassen ungemein beliebte "Kein schöner Land" und das bekannteste aller niederdeutschen Lieder, "Dat du min Leevsten büst". Dank der musikalisch keltischen Sozialisation des Trios ist rein gar nichts von Volkstümelei zu spüren. Aufmerksamen Ohren wird nicht entgehen, dass das "Trauervögelein" sich die Melodie des britischen Klassikers "Bonny Light Horseman" entliehen hat.

Im eingeblendeten Chat-Verlauf liest man den ein und anderen Namen eines alten Bekannten. Mein's ist das Chatten nicht, aber wirklich schlimmer ist der Online-Schmu auch nicht als die obskuren Kommentare deiner Nachbarn beim Live-Konzert. Es hat sogar den Vorteil, dass dies hier lautlos vor sich geht. Die Kleingeldprinzessin Dota Kehr singt nun in der Kulisse eines Berliner Späti. Die Gesangspartner Wader & Wecker von ihrem aktuellen Album mit Texten der jüdischen Lyrikerin Mascha Kaléko[72] sind natürlich nicht dabei, in Berlin ist das gemeinsame Singen in geschlossenen Räumen sowieso verboten. Etwas gespenstisch ist es ohne Publikum und Applaus schon, muss ich allerdings sagen.

Stoppok
„Ich habe vor der Krise in Interviews immer gesagt, wie froh ich bin über die bunte Kulturszene in Deutschland. Ich arbeite viel mit Musikern aus dem Ausland, die Deutschland beneiden um die Clubszene, um die Kulturinitiativen. Das war bisher eine unglaublich tolle Szene, die mir und vielen anderen ermöglicht hat, sich nicht an große Labels verkaufen zu müssen, sondern unabhängig agieren zu können. Das ist jetzt extrem schwer gefährdet.“
- Stoppok

„Wenn man sieht, wie unterschiedlich Prioritäten gesetzt werden, welche Zweige als relevant ansehen werden und welche nicht, dann macht das traurig und man macht sich auch große Sorgen um viele Kollegen, viele Veranstalter, die vermutlich demnächst nicht mehr da sein werden, wenn es so weitergeht, weil sie sich einfach nicht finanzieren können.“
- Jan Traphan (Simon & Jan)

„In den schlechtesten Umständen haben die Leute früher noch ihren Lebensmut bewahrt und ihre Contenance behalten, indem sie sich Gedichte vorgelesen und Musik gespielt haben, indem sie kulturell immer noch voll auf der Höhe waren. Und wir treten den Begriff „Kultur“ im Augenblick in Grund und Boden.“
- Guntmar Feuerstein

„Wer Kunst und Kultur abschießt, der macht gefährliche Sachen. Das sind die nicht-materiellen Säulen einer Gesellschaft. Kulturelle Bildung bringt den Menschen das Denken bei.“
- Andrea Pancur


Wenzel
„Man wird die Abwesenheit von Musik und Kultur zwar nicht gleich, aber irgendwann bemerken. Das macht auch etwas mit einem. Natürlich ist es wichtiger, erst mal Brötchen zu holen oder wenn man krank ist, jemanden zu haben, der einem Medikamente gibt. Die Kultur ist nicht überlebens-notwendig in diesem Sinne, aber die Seele hat eben auch Hunger.“
- Heinz Ratz (Strom & Wasser)

„Man muss die solidarischen Gefühle in unserer Subkultur aufrechterhalten. Die Gesellschaft hat es nicht getan. Sie hätte es tun können, indem sie sagt, lasst uns doch mal unsere Rundfunksender umspulen und eine Weile nicht die amerikanischen Songs, sondern unsere Künstler spielen. Alle haben CDs produziert. Warum sind die nicht gelaufen, damit die Leute ein bisschen Geld verdienen? Wir müssen zusammenhalten, dürfen uns nicht kleinkriegen lassen und müssen uns stark machen für die kommende Zeit, die mit großen sozialen Widersprüchen einhergehen wird. Es wird keine einfache Zeit, aber dafür brauchen wir unsere Gelassenheit und die Aufrichtigkeit in unserer Kunst.“
- Wenzel

Die Grenzgänger[71] befinden sich im Bürgerhaus Weserterrassen, einem arrivierten Kulturzentrum in der Hansestadt. Mit zwei Gitarren, Akkordeon und Cello bringen sie Obdachlosigkeit, Ungerechtigkeit und ein Kinderlied aus dem 3. Reich aufs Tapet. Eine Geschichtsstunde aus der Perspektive von Otto Normalverbraucher. Es sind sperrige Texte, aber mit Elan und Passion unter das Volk gebracht. Die Bremer singen auch von den Stadtmusikanten, nur werden aus dem tierischen Quartett nun vier Wirtschaftsflüchtlinge, die über den Überseehafen nach Amerika wollen. Lakonischer Kommentar: Auch der Großvater von Donald Trump war dabei! Prompt meldet sich ein "P. Trump" im Chat. Seine Anmerkung ist jedoch: "​Die Grenzgänger? Bisher noch nie gehört und schwupp, schon begeistert. Genau darum mag' ich solche Festivals, immer wieder supertolle neue Bands entdecken."

Der gute, alte Hans-Eckhardt Wenzel ist ein Schwergewicht in Sachen alternativer Kultur.[58] Mit vollständiger Band, die dank Weitwinkel alle im Bild sind, lässt er die Poesie hochleben. Zur Musik des italienischen Schlagersängers Rocca Granata lästert er: "Corona, Corona, Corona, warum bist du nur so gemein ..."

Wolfgang Meyering, einst in Rudolstadt zuständig für die Magic-Instruments-Konzerte, ist Herz und Hirn der Platt-Deutsch-Folk-Formation Malbrook.[36] In der Scheune im Schweriner Freilichtmuseum für Volkskunde (Lokation des Windros Festivals)[51] haben sich sogar nicht-virtuelle Zuhörer eingefunden - und damit meine ich nicht die Kühe! Wolfgang zupft die Mandola, unterstützt von Geige (Vivien Zeller),[67] Sackpfeife und Akkordeon (Ralf Gehler) und Konzertina (Ernst Poet). Das Quartett besucht musikalisch alle Ostsee-Strände, interpretiert alte plattdeutsche Balladen, aber auch ein Tanzstück aus Wernigerode am Harz. Das geht in die Beine, kann aber auch mal ganz episch klingen.

Dota Kehr

Ein findiger Kopf im Chat bringt an dieser Stelle den Applaus-Emoticon ins Spiel. 👏👏👏👏👏 Ich lese und muss zustimmen: "​Wie hieß es vorher im Interview - die Szene sei klein. Vielleicht nach Zahlen - aber was da allein an Bandbreite da ist - Hut ab! So klasse." Es folgt eine kleine Pause, in der Statements der teilnehmenden Künstler zur gegenwärtigen Folk- und Volksmusik-Szene eingespielt werden. Parallel dazu wird über die Zuschauerzahl diskutiert. Rund 550 Personen werden auf allen Kanälen gezählt. Man kann nicht nachvollziehen, warum nicht mindestens 8.000 Menschen zusehen. Aber wenn "hinter jedem dieser Geräte 16 Leute im Garten zusammensitzen" ...

Der heimische Ofen, vor dem das Duo Akleja[69] sitzt, ist kalt. Die Atmosphäre jedoch ist warm und gemütlich. Regina Kunkel und Björn Kaidel sind die sprichwörtliche Ausnahme von der Regel, sie spielen ausschließlich instrumentale Musik, Nyckelharpa begleitet von (Irish) Bouzouki bzw. Gitarre. Anschließend albern Simon & Jan,[70] jedoch nicht mit einem exklusiv für das Festival produzierten Video, sondern wegen augenblicklicher Stimmbandprobleme mit einem Mitschnitt aus dem Jahr 2019 - noch distanzlos mit Orchesterbegleitung! Es muss einem ja nicht alles gefallen, und es verschafft mir so, wie bei einem richtigen Festival, eine Pause zum Durchatmen. Ab an die Theke! Ein Gläschen Rotwein später blicke ich in ein dunkles Studio des Deutschlandradios Kultur, wo Sängerin Andrea Pancur begleitet von Akkordeonist Ilya Shneyveys sowie Background-Sängerin Patti Farrell ihren mit dem Deutschen Weltmusikpreis RUTH ausgezeichneten Alpen-Klezmer präsentiert.[53]

Nun aber springen die Organisatoren selbst in den Ring. Insbesondere Gudrun Walther[64] ist, inspiriert von Matthew Bannisters Front Room Festival, der Motor hinter Sang & Klang. Mit ihrer Gruppe Deitsch[32] gibt sie ein Bücherscheunenkonzert im benachbarten Antiquariat. Gudrun selbst singt und spielt Geige und Akkordeon, Barbara Hintermeier die zweite Geige, Steffen Gabriel Flöte und Sackpfeife, Jürgen Treyz schließlich begleitet auf der Gitarre. Wobei der Ausdruck Begleitung ein ziemliches Understatement ist. Alle Stücke stammen von der aktuellen CD "Mittsommer Sessions":[70] traditionelle Polonaisen und Zwiefache, Balladen wie das uralte "Es geht eine dunkle Wolk' herein" und die "Ballade vom König von Thule" aus Goethes Faust. Die Interpretation deutscher Volksmusik ist auch hier sozialisiert durch Celtic Folk, insbesondere die Zwischenspiele könnten kaum irischer sein. Die Kameraführung ist genauso dynamisch wie die Musik, der Chat kommentiert: "Dauergänsehaut!"

Gudrun Walther

Mike Kamp findet im Anschluss deutliche Worte: Sang & Klang sei auch eine Protestveranstaltung dagegen, die Künstler im Regen stehen zu lassen. Dann singt, ganz wie es seine Art ist, Singer-Songwriter Stoppok[71] Tacheles: "Wie schnell ist nichts passiert" mutiert zum Coronasong, auch "Pack mit an" passt in die verrückte Zeit, und "Tanz" liefert immer wieder ein schönes Motto: Beweg dein Herz zum Hirn, schick beide auf die Reise. Tanz, tanz, tanz, aber dreh dich nicht im Kreise ... Stoppok sitzt allein in seinem Probekeller, umgeben von vielen Gitarren und einem Banjo (das dann doch nicht zum Einsatz kommt), aber auch heute beweist er sich wieder als One-Man-Band, die manch Orchester ersetzt.

An dieser Stelle klinke ich mich aus. Es kommen noch Hans Well & Die Wellbappn,[72] Sarah Lesch,[72] Strom & Wasser,[62] und das Festival soll erst nach 7,5 Stunden enden. Zum Glück für alle, die nicht genug Durchhaltevermögen haben, wird das ganze Video online gestellt und kann wieder und wieder angesehen werden.

Auch wenn Sang & Klang nicht das real thing ist, und auch nicht sein kann und sein darf, so zeigt es doch aufs Schönste, dass die digitale Welt nicht nur Sodom & Gomorrha, sondern eben auch Sang & Klang zu bieten hat. Unabhängig von Corona, warum hat es so etwas nicht längst schon gegeben? Auch im Chat heißt es: "Virtuell hat auch was - so viele Bands hätte ich diesen Sommer normal nicht kennen gelernt"! Und nächstes Jahr "alles live" und "mit echtem Publikum"! Und sei es nur als Teil von Rudolstadt und/oder Bardentreffen!?

In diesem Sinne: Keep your distance, but stay connected! 😷



Photo Credits: (1)-(2) Sang & Klang Festival (Bube Dame König, Akleja, Malbrook, Andrea Pancur, Wenzel), (3) Michael Zachcial (Die Grenzgänger), (4) Stoppok, (5) Dota Kehr, (6) Wenzel, (7) Gudrun Walther (Deitsch), (by Sang & Klang Festival).


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