FolkWorld #76 11/2021

CD Rezensionen

Cara "Grounded"
artes records, 2021

Article: The Child Ballads

English CD Review

www.cara-music.com

Neben ihren Unternehmungen als Duo und mit ihren Bands Deitsch und Litha, die zwischen deutscher und keltischer Folkmusik pendeln,[64] gründeten Gudrun Walther und Jürgen Treyz das Musikensemble Cara, um Deutschlands Flaggschiff in Sachen Irisch (und Schottisch) zu werden. Cara hat mehrmals die deutschen Küsten verlassen, um in Übersee zu touren,[34][40] [64] und ihr Mut wurde zweimal durch Irish Music Awards belohnt. Die Veröffentlichung dieses Albums war ursprünglich für Dezember 2020 geplant, doch die gestrenge Dame Corona zwang, die Pläne zu überdenken. Vor allem erforderte die CD einen neuen Titel, und "Grounded" spielt gleichzeitig auf Caras bodenständige Musik an als auch auf fahrende Musikanten, die im Pandemie-Lockdown notlanden und feststecken. Gudrun fing die Stimmung augenzwinkernd ein, indem sie den "March for the Grounded Traveller" (der alles andere als marschiert), "Trip to the Fridge" (die Ersatzbefriedigung des frustrierten Künstlers) und "Not Tuscany" (sondern Klausur in Niedersachsen, aber kann ja auch schön sein) komponierte. Allen Herausforderungen zum Trotz haben es Gudrun (Gesang, Geige, Akkordeon) und Jürgen (Gitarre, Dobor, Banjo) geschafft, mit ihren beiden Kollegen zu musizieren. Derzeit sind dies der Uilleann-Piper Hendrik Morgenbrodt und die schottische Singer-Songwriterin Kim Edgar (Gesang und Klavier).[62] Das Internet ermöglichte auch die Mitwirkung der Bodhrán-Spieler Aimée Farrell Courtney und Tad Sargent (offenbar verließ Gründungsmitglied Rolf Wagels ein für alle Mal die Gruppe) sowie des Cellisten Henrik Mumm. Sicher, wir alle wissen, dass Cara für lieblichen weiblichen Gesang, manchmal in betörender Harmonie, und eine großartige Auswahl an Liedern steht: "The Cockle Gatherer" ist eine englische Übersetzung des Arbeitsliedes "'S Trusaidh mi na Coilleagan" von den Hebrideninseln, das Kim seit ihrer Schulzeit kennt. Außerdem glänzt sie mit dem bekannten Burns-Song "Lassie, Lie Near Me" und zwei alten Child-Balladen, "The False Lover Won Back" (Nr. 218) und "True Thomas" (alias "Thomas the Rhymer", Nr. 37).[75] Letzteres ist dank Gudruns neuer Vertonung zum wiederholten Male[65] ein echter Ohrwurm. Gudrun singt weiterhin Dylans "Lay Down Your Weary Tune" als eindringliche Pianoballade mit Jürgens wehmütiger Dobro und den finalen Titel "The Spell of Winter", der tröstliche Aussicht, dass nach Frost und Kälte Sonnenschein und Frühling kommen. Die Songs sind die sprichwörtliche Stille vor dem Sturm toller irisch-schottischer Instrumentalmusik. Auch wenn Tanzen im Pandemie-Zeitalter nicht der letzte Schrei ist, ist Gudruns "Windhorse" ein furioser Ritt und die Interpretation von Jarlath Hendersons "Jaboozy" eine sexy Jazznummer. Caras Präsentation ist mal zart, mal verspielt, mal cool und abgefahren. Hendrik ändert noch einmal die Stimmung: Das Slow Air "The Pretty Girl Milking The Cow" ist ein Solo mit den Pipes - übrigens ein Instrument aus eigener Fabrikation - das das ganze Potenzial des Instruments ausschöpft - Chanter, Bordun und Regulatoren. Die Melodie stammt von einer frühen Aufnahme des einflussreichen Pipers Finbar Furey und ist auch 50 Jahre später noch genauso ergreifend – wenn von einem Könner gespielt. Trotz (oder gerade wegen) der erzwungenen Pause entpuppt sich Caras "Grounded" als eines ihrer besten Alben. Es fügt sich gut in die Chronologie ihrer Aufnahmen ein,[29][59] haucht ihr zwar neues Leben ein, aber dezent und unaufdringlich. Das Beste ist, dass es sich nicht in Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit verliert.
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Northern Light "Stolen Berries"
Liekedeler Musikproduktionen, 2021

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www.northernlight-music.de

Northern Light ist ein neues Folk-Quartett, aber bestehend aus bekannten Gesichtern. Ausnahme ist die Sängerin und Akkordeonistin Franziska Gabriel (geb. Müller), deren musikalischer Schwerpunkt nach einem klassischen Musikstudium bislang vor allem im Bereich Jazz, Tango und Balkanmusik lag. Der Deutsch-Texaner Michael 'Meikel' Poelchau hat in den vergangenen Jahren das Geigenspiel bei Five Alive O und An Tor übernommen.[33] Bouzoukispieler Tobias Kurig kann auf ein beachtliches CV zurückblicken: Shanachie, Déirin Dé,[24] Nua.[44][53] Mit letzterer Formation hat er denn auch bereits mit Flötist Steffen Gabriel musiziert. Ansonsten spielt Gabriel überall mit,[54][58] wenn er nicht gerade damit beschäftigt ist, seine eigenen Querflöten anzufertigen. Mit dieser Besetzung kann doch eigentlich nicht viel schiefgehen. Northern Light haben ein paar Perlen - respektive kleine, süße Früchte - zusammengeklau(b)t: Ausgehend von der irischen Musik wird sich allerlei europäischer Folkmusiktraditionen bedient, vor allem den Skandinavischen, und damit ein ganz eigenes, charakteristisches Klanggewächs gezüchtet. Das Ergebnis ist handwerklich 1a, aber lässig und mit leichter Hand realisiert. Getanzt wird zu irischen Reels, nordischen Polskas, einem Walzer aus der Feder der englisch-schwedischen Fiddlerin Emma Reid.[59] Franzi und Steffen haben selbst komponiert, u.a die "Muiñeira de Mañana", also den schritttechnisch komplexen Tanz aus dem nordspanischen Galizien im 6/8-Rhythmus. Auf der Gesangsseite finden sich die liebestollen Ploughman Lads aus Schottlands, Emily Portmans Version von den sieben in Raben verwandelten Brüdern (das kennt man ja auch aus den gesammelten Hausmärchen der Gebrüder Grimm) und Ewen Carruthers dramatische Erzählung vom Wettlauf zum Südpol. Und dann wäre da noch Northern Lights Adaptation von "The Stolen Child", einem frühen Gedicht des irischen Literaturnobelpreisträgers William Butler Yeats, in dem die bösen Feen die kleinen Kinder verführen. Es heißt: There we've hid our faery vats, full of berrys and of reddest stolen cherries. Auf gut deutsch: Dort haben wir unsere Feenbottiche versteckt, voller BEEREN und rötester GESTOHLENER Kirschen...
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Silverfuchs "Teifli eini..."
NRT-Records, 2021

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www.silverfuchs.at

Zwei alte Weisheiten zu Beginn: Die Wege des Herrn sind unergründlich, und: Man trifft sich immer zweimal im Leben. Als ich in die Silverfuchs-CD hereinhöre, denke ich mir: Diese Stimme kenne ich doch! In der Tat, Sepp Tieber-Kessler war und ist Gitarrist der Grazer Irish-Folk-Band Boxty, mit denen ich so um die Jahrtausendwende (damals hieß die Gruppe noch "Gobshite") eine Bühne teilen durfte. Und ausgerechnet in einem Irish Pub in der Grazer Altstadt durfte ich miterleben, wie er seiner anderen Leidenschaft frönte, dem Blues des legendären Robert Johnson. Anno 2017 wanderte Sepp zusammen mit seinem Boxty-Bandkollegen Eamonn Donnelly per pedes von der Steiermark nach Irland. Zurück brachte er nach ein paar Wochen eine Unmasse an Liedern, Geschichten und Ideen, die den Grundstein für eine neue Musikformation bilden sollten. Er selbst singt und spielt Resonator-Gitarre und Bluesharp; seinen beiden kongeniale Partner sind Kontrabassist Stevie Muskatelz, der für einen jazzigen Groove sorgt, und Schlagzeuger Vladimir Vesic, der sich hier wie weiland schon Charlie Watts bei den Stones auf das Wesentliche konzentriert. Silverfuchs spielt den südoststeirischen Hügellandblues, eine ausgeklügelte Mischung aus altbewährtem und zeitgemäßem Americana zwischen Country-Blues und akustischem Folk-Rock, gepaart mit klugen und intimen Texten in steirischem Dialekt. Gleich der Auftakt ist eine ungeschminkte Abrechnung mit dem real-existierenden Alpen-Tourismus ("Gondelbahnwahnsinnsjodler"); beim Titelstück darf man zwischen den Zeilen nach der Kritik der allgemeinen ökonomischen Verhältnisse suchen. "Tiefgefrorener Schrei" ist die immer noch notwendige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus. "Frischer Wind" ist dann endlich mal ein persönliches Lied (insofern man das Private und das Politische trennen kann). Der Text soll von Eamonns Bruder John Donnelly inspiriert sein, der mir damals im oben genannten Pub so manch gutes Pint Guinness gezapft hat. Beim absolut eingängigen Hit von Silverfuchs wiederum wird sich auf eine Anregung durch Kabarettist Josef Hader berufen: "Es muaß wos weidergehn" nimmt nicht nur Ellenbogengesellschaft und Wachstumsglaube aufs Korn, sondern seziert nebenbei auch noch die Dominanz der (a)sozialen Medien. Und dabei groovt das Trio lässig im Reggae-Rhythmus dahin... Nun war ich seit über einem Jahrzehnt nicht mehr in der Steiermark, doch überkommt mich unvermittelt das Verlangen, dem pläsierlichen Tierchen (oder ist es ein Biest?) namens Silverfuchs im heimischen Revier nachzuspüren.
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Daniel Kahn "word beggar"
Oriente Musik, 2021

Article: Daniel Kahn

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www.paintedbird.de

Mordechai Gebirtigs "Der Zinger fun Noyt" aus dem Jahre 1920 wurde ein englischer Text verpasst. Kurt Tucholsky ("Bay Undz in Eyrope"), Georges Brassens ("Chanson pour L'Auvergnat" oder "Lid dem Poyer") und Robert Zimmermann, besser bekannt unter seinem Künstlernamen Bob Dylan, wurden eingejiddicht. Aus "I Pity the Poor Immigrant" wurde "Rakhmones afn Imigrant" und aus "I Shall Be Released" wurde "Ikh vel zayn bafrayt". Tradaptations (also translations & adaptations) nennt Daniel Kahn diese Übersetzungen, die für ihn eine ganz eigene Kunstform sind. So geschehen auch mit Leonard Cohens "Haleluye"; Kahns Version spart sich leider den Refrain, überhaupt verweigert er sich dieser Tage konsequent allen Anbiederungen ans Mitsingen und Mitmachen. Das vor fünf Jahren produzierte Video zeigt ihn noch an der Gitarre, auf dem aktuellen Album wird das durch zahllose Cover-Versionen und Film-Einsätze arg strapazierte Stück ganz minimalistisch und beinahe beklemmend und unheilschwanger auf dem Klavier gespielt.

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Der jüdisch-amerikanische Musiker aus Detroit lebt seit 2005 in Deutschland, zunächst in Berlin, wo er Jiddisch lernte und mit The Painted Bird eine Band gründete. Es entstanden fünf CDs, die die traditionelle Klezmermusik und das jiddische Lied ins Singer-Songwriting überführten.[68] Seit diesem Jahr lebt und arbeitet Daniel Kahn mit seiner Partnerin Yeva Lapsker auf einem Wohnschiff im Binnenhafen Hamburg-Harburg. Zudem entstand sein allererstes Solo-Album. Das war überhaupt nicht geplant, als er aber das auf der Schwäbischen Alb gelegene White Fir Studio kennenlernte, beschloss er sogleich die neuen Lieder solo und ganz analog auf einem 16-Spur-Gerät aufzunehmen. Die eine Hälfte an der Gitarre, die andere am Klavier. Einzig sein Akkordeon wurde später hinzugefügt. So konzentriert sich alles auf den Text, und das ist auch gut so. "Warum singst du? Für wen singst du?" thematisiert das Lied des jüdisch-polnischen Dichters Mordechai Gebirtig, der 1942 im Krakauer Ghetto verstarb. Daniel Kahn ist klug genug, nur Fragen aufzuwerfen und sie nicht zu beantworten. Irgendetwas muss das Publikum ja auch noch tun. Ganz gleich ob es sich um historische, gesellschaftliche oder persönliche Sachverhalte dreht. Vor allem kommt der Globetrotter und Kosmopolit immer wieder auf das Motiv Heimat zurück. "Wenn Heimat ein Gefühl ist, dann ist es ein kompliziertes und paradoxes Gefühl", sagt Kahn. "Es ist nicht immer schön, es ist nicht immer schmerzlos oder nostalgisch."
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Billy Bragg "The Million Things That Never Happened"
Cooking Vinyl, 2021

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www.billybragg.co.uk

Fünf Jahre ist das letzte Album von Billy Bragg[65] her, seine Bahnreise quer durch Amerika mit Joe Henry,[61] Ich hatte fast den Eindruck, er schriebe dieser Tage lieber Bücher.[66][69] Nun gibt es doch noch sein immerhin zehntes Studioalbum namens "A Million Things That Never Happened". Braggs Blues, wobei die Corona-Pandemie summa summarum für herausfordernde Umstände steht. Er sagt: "Normalerweise versucht man als Songwriter das Publikum auf ein bestimmtes Thema aufmerksam zu machen, über das es bislang nicht nachgedacht hat. Aber die Pandemie ist eine Erfahrung, die jeder gemacht hat, da ist das anders: Man versucht Gefühle auszulösen, aber ohne andauernd die Pandemie zu erwähnen. Manche Menschen haben darunter enorm zu leiden gehabt, sowohl psychisch als auch physisch und darum ging es mir beim Schreiben der Songs." Das Titelstück ist Sinnbild für alle Dinge, auf die wir in den vergangenen anderthalb Jahren verzichten mussten: "A hug for the crying, a kiss for the dying." Die erste Singleauskopplung "I Will Be Your Shield" ist das Kernstück des Albums: "Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass Empathie die Währung der Musik ist – dass es unsere Aufgabe als Songwriter ist, den Menschen zu helfen, mit ihren Gefühlen zurechtzukommen, indem wir ihnen Beispiele dafür geben, wie andere mit einer ähnlichen Situation umgegangen sind, in der sich die Zuhörer befinden. Nach dem, was wir alle durchgemacht haben, sollte die Idee, ein Schutzschild zu sein, physisch, emotional und psychologisch, mitschwingen." Das Dutzend Lieder ist überwiegend meditativ, musikalisch baut Bragg auf den Folk- und Rootsklängen seiner Woody-Guthrie-Adaptationen auf. Dabei wirkt er beinahe wie ein ergrauter "Punk", der in die Jahre gekommen ist. Er hat aber immer noch was zu sagen; seine Sozialkritik ist scharf wie ein Irokesenschnitt, das Vertrauen auf die Menschheit und die Solidargemeinschaft felsenfest. Zum Glück verfügt er über die nötige Portion Esprit: das ironische "Freedom Doesn’t Come for Free" berichtet von der Utopie eines regierungsfreien Paradieses im ländlichen New Hampshire. Es werden keine Steuern für die Müllabfuhr gezahlt, und wer liebt es, im Müll nach Nahrung zu wühlen? Klar, Meister Petz: "If you leave everything to laissez-faire, you may have to wrassle with a bear..." Zum guten Schluss werden die Regler dann doch noch mal aufgedreht, der überschwängliche Refrain von "Ten Mysterious Photos That Can’t Be Explained" nimmt den wachsenden Irrsinn im Internet und die grassierenden Verschwörungstheorien in den Sozialen Medien aufs Korn. Das Lied ist im Übrigen eine Gemeinschaftsarbeit mit Sohn Jack Valero, der auch Gitarre auf dem Album spielt und gerade im Begriff ist, sich selbst einen Namen als Singer-Songwriter zu machen. Hört, hört...
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Michael van Merwyk "Blue River Rising"
Timezone Records, 2021

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www.bluesoul.de

Michael van Merwyk aus dem ostwestfälischen Rheda-Wiedenbrück belegte 2013 den grandiosen zweiten Platz bei der International Blues Challenge in Memphis. Er ist ein leidenschaftlicher Blueser, ist tief in der Tradition des afro-amerikanischen Musikgenres und der akustischen Roots-Musik verwurzelt, verleiht ihr aber auch einen europäischen Drall. Respekt ja, aber kein Pathos! Wichtiger sind Emotionen, Herzblut und Energie![48][68] Das aktuelle Album "Blue River Rising" vereint Merwyks Lieder, die im Lockdown ins Hirn geschossen sind und die Seele trösten und die Stimmung heben wollen: "Begleitet werden die Geschichten auf Blue River Rising von zwei Resonatorgitarren namens Heart & Soul. Heart ist eine Continental in Open-G-Stimmung und hat seinen Namen von den drei Herzen, die meine Liebste auf die Kopfplatte geklebt hat, damit ich jedes Mal, wenn ich spiele, an sie denke. Soul ist eine alte Dobro mit viel Mojo von ca. 1976, gestimmt auf Vestapol oder D-Moll. Sie wurde mir von meinem guten Freund Piet Ehefeld kurz vor seinem Tod überreicht, damit die Flamme nicht erlöscht." Traditionelle Blues-Songs, Eigenkompositionen und feine Cover wie den Bluesgitarristen Johnny Copeland ("Circumstances") und Larry Garner ("The Road Of Life"), Mundharmonikaspieler Phil Wiggins ("The Blues Will Do Your Heart Good"), der zusammen mit John Cephas den Piedmont-Bluesstil in der ganzen Welt verbreitete, und Folk-Ikone Woody Guthrie ("I Ain’t Got No Home In This World Anymore"). Ansteckung garantiert (um es mal so zu sagen)! Er singt wie ein Fels in der Brandung, während die Finger über die Saiten wirbeln. Alle Lieder wurden an einem Tag live im Watt Matters Studio in Bielefeld eingespielt (siehe auch Bad Temper Joe unten), und dabei darf nicht vergessen werden, dass Harmonikavirtuose Gerd Gorke (Hootin' the Blues) mit seinem einfühlsamen, aber schnittigen Spiel einen erheblichen Anteil am guten Gelingen hat.
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Konstantin Wecker "Utopia"
Sturm & Klang, 2021

Article: Konstantin Wecker

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www.wecker.de

Wie lange muss der Münchner Liedermacher-Veteran noch den "Willy" spielen? Noch sehr lange Zeit befürchte ich; die aktuelle Version ist Vili Viorel Păun gewidmet, der sich im Februar 2020 einem rassistischen Amokläufer entgegenstellte und dabei erschossen wurde. Seitdem sind mehr als ein dutzend Texte entstanden, die - so Wecker - nach Musik lechzten. Da ist Wecker der Anarcho: "Es gibt kein Recht auf Gehorsam, verweigern wir jedes Gebot; nur noch ein Sein ohne Herrschaft befreit uns aus unserer Not..." "Schäm dich Europa - erst sätest du Kriege überall in der Welt und dann brachten die Siege deinen Herrschern und Fürsten Reichtum und Ehre... Und nun fliehen die Ärmsten vor deinen Gewehren und du lässt sie ersaufen in verseuchten Meeren..." Wecker der Romantiker: "Es lebe die Zerbrechlichkeit, Stärke macht mir Angst, es sei denn, sie ist aus Zerbrechlichkeit geboren..." "Wir werden weiter träumen und keiner rede uns drein, wir wollen überschäumen in unsrem Eigen-Sein..." Beide Wesen vereinigen sich in idealer Weise, wenn er eine kammermusikalische Partitur aus den frühen 1980ern ausgräbt und fast vier Jahrzehnte später endlich mit Musikern der Bayerischen Staatsoper in die Tat umsetzt: "Das wird eine schöne Zeit, wenn Krieger vor Liedern fliehen und Waffen Gedichten erliegen..." Ja, der Utopist braucht einen langen Atem. Den hat er, auch wenn er immer öfters zwischen Selbsterkenntnis und Degeneration das Älterwerden thematisiert. Er ist nicht lebensmüde, noch lange nicht vergreist, über dem Hedonismus steht die Vernunft. So hat er sich von liebgewonnenen Magazinen distanziert, seitdem dort immer mehr Verschwörungstheorien die Runde machen. Über querdenkende Wecker-Fans, die drohen, seine Alben zu verbrennen, kann er wahrscheinlich nur die Hände ringen. Statt zu verzweifeln, baut Wecker das Youtube-Magazin "Weckerswelten TV" auf und hat ein Buch verfasst: "Poesie und Widerstand in stürmischen Zeiten" als sein "Plädoyer für Kunst und Kultur" im konzertlosen Pandemie-Zeitalter. Konstantin Wecker entzieht sich nicht der Wirklichkeit, wenn er einem herrschafts- und gewaltfreien Parallelluniversum die Stimmer verleiht: "Wir müssen heute das Utopische gemeinsam suchen, denken, fordern, es leben und dafür handeln! Was wäre die Alternative angesichts der möglichen Vernichtung des gesamten Planeten?"
Mal solo am Klavier, mal geigen die Streicher auf, mal grooven seine exzellenten Begleitmusiker wie Joe Barnikel und Severin Trogbacher. Und nach seiner erfolgreichen Konzertreise "Utopia"-Tour, die noch bis Ende des Jahres laufen wird, kündigt sich bereits die darauffolgende Konzertreise "Ich singe, weil ich ein Lied hab" an. Denn Konstantin Wecker wird im nächsten Jahr 75 Jahre alt und will dies mit sowohl neuen Liedern als auch beliebten Klassikern feiern. Und vor allem mit Publikum. Der Tourauftakt findet am 3. Juli 2022 als Open Air Event im Kloster Banz statt.
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Latin Quarter "Releasing the Sheep"
Westpark Music, 2021

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www.latinquartermusic.com

Das aktuelle Latin Quarter Album kündigte sich bereits im letzten US-amerikanischen Präsidenten-Wahlkampf mit dem Song "MAGA" (d.h. Make America Great Again) an. Ein augenblicklicher Klassiker, der wie eine Fortsetzung zu "America for Beginners" vom Debütalbum "Modern Times" aus dem Jahre 1985 wirkt. Nicht nur textlich, sondern auch musikalisch wie ich finde. Seit Mitte der achtziger Jahre hat es offenbar wenig Fortschritt gegeben; Latin Quarter serviert wie Jahr und Tag einen Cocktail aus Sozialkritik und Geschichtsstunde. "Equality Not Revenge" wurde inspiriert von #BlackLivesMatter (Youtube). "That’s Why I Turned My Badge In" wurde bereits in den neunziger Jahren anlässlich der Polizeibrutalität gegenüber Rodney King geschrieben. "The Bevin Boys" erinnert an die beinahe 48.000 jungen Briten, die während des 2. Weltkriegs nicht zum Dienst beim Miltär eingezogen, sondern zur Arbeit in den Kohlebergwerken zwangsverpflichtet worden sind. "Keeping My Head", eigentlich eine Kritik an Margaret Thatchers Privatisierungspolitik, wurde umgeschrieben "um gegen Streaming-Unternehmen zu sticheln. Sie bezahlen Musiker so wenig, sind aber schwer zu boykottieren, weil man dadurch leicht aus der öffentlichen Aufmerksamkeit verschwinden könne."
Die englische Pop-Gruppe stürmte 1985 mit Hits wie "Radio Africa" und "The New Millionaires" die Charts. Textlich war man, auch damals schon ungewöhnlich genug, zu 99,99% auf Politik und Kritik gebürstet. Die Band ging auf eine nicht enden wollende Tour, während der noch drei weitere Alben veröffentlicht wurden. 1990 löste sich das Kollektiv auf. Steve Skaith machte zunächst unter eigenem Namen weiter,[34] rief aber nach erneuter Beschäftigung mit den alten Hadern[41] wieder die erfolgreiche Bandbezeichnung ins Leben.[48][55][61] Das Line-Up wechselte mehrfach, doch konnte Urgestein Steve Skaith diesmal wieder auf den einstigen Songschreiber Mike Jones zurückgreifen, da einige Lieder aus den 1980ern recycelt worden sind, die damals nicht veröffentlicht worden waren. "Mandela’s Ghost" hieß damals noch "Che’s Ghost" und aus ‚I saw Che’s ghost on the Sierra Madre’ Jahre vor Latin Quarter wurde jetzt ‚Saw Mandela's ghost up on Table Mountain, I was wondering what hurts him most, what hits him harder: Is it the ANC in their limos and palaces...’
Dabei groovt Latin Quarter locker vor sich hin. An der musikalischen Formel Folk-Welt-Pop hat sich nichts geändert. Im Laufe der 13 Titel stellt sich etwas Ermüdung ein, aber "Releasing the Sheep" ist kein Album, das sich beim ersten Hören völlig erschließt, sondern erst nach und nach seine Geheimnisse und Wunder preisgibt. Versöhnt und befriedigt ist es für mich eine würdige Kreation im späten Latin-Quarter-Œuvre. ‚You're only as good as your last show’ bringt es auf den Punkt: 1989 wurde das Lied von ängstlichen Managern und Plattenbossen in Acht und Bann geschlagen; nun ist es der sprichwörtliche Phönix aus der Asche. Wenn das die letzte Show ist, dann läuft es gerade jedenfalls ganz gut.
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Eleanor McEvoy "Gimme Some Wine"
Blue Dandelion Records, 2021

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Eleanor McEvoy

eleanormcevoy.com

2004 malte der mittlerweile verstorbene Brite Chris Gollon (1953-2017) sich selbst als Judas, der sich beobachtet von Maria Magdalena am Baum erhängt. Inspiration hat ihm dazu Bob Dylans "With God on our Side" geliefert. Gollon hat des öfteren auf populäre Musik zurückgegriffen, um seine Bilderwelt dem Betrachter näherzubringen. "Die Staffeleimalerei ist für tot erklärt worden, seit es Staffeleimalerei gibt, aber in einer Zeit, in der die meisten Menschen sich durch den Film mit Bildern identifizieren, müssen Maler neue Wege finden, ihre Arbeit mit den Menschen in Verbindung zu bringen." Offenbarungen lieferte das Werk von Künstlern wie Dylan oder Neil Young, aber auch die ganz konkrete Zusammenarbeit mit dem Rock-Gitarristen Thurston Moore (Sonic Youth) und der klassischen Akkordeonistin Yi Yao. Das funktioniert in beide Richtungen: Die irische Sängerin und Songwriterin Eleanor McEvoy schrieb den flotten, eingängigen Folk-Pop-Song "Gimme Some Wine" nach der Betrachtung eines Gollon-Bildes, das selbst wiederum von einem alten McEvoy-Song angeregt worden war. Gollon fertigte in Folge eine Gemälde-Serie an, die sich auf ihre gemeinsame Liebe, Picassos berühmte Blaue Periode, bezieht. Die Musik ist trotz einiger grooviger Ohrwürmer (die Refrainzeile des Titelstücks brennt sich wirklich ins Hirn) auch blau, d.h. es herrscht eine gedankenvolle und wehmütige Haltung vor. Ist "The Spanish Word For Heart" noch gemütlich und beruhigend, liegt die "South Anne Street" im Zwielicht, und "Survival" ist dann nur noch trostlos und deprimierend. Der Habitus insgesamt jedoch verströmt Tatkraft und Zuversicht. "Scarlet Angels" schildert ein "A Woman's Heart"-Konzert und feiert Freundschaft, Solidarität und Musik. Mit dem erfolgreichen Hit "Only A Woman's Heart" begann nach dem RTÉ National Symphony Orchestra und der Mary Black Band in den 1990ern die Karriere der Eleanor McEvoy. Ihre musikalische Palette ist recht breit[32] und sie hat sich immer wieder interessanter Projekte angenommen, zum Beispiel den Balladen des irischer Nationaldichters Thomas Moore.[64] Auch hier hat sie wieder eine Flasche des besten Rebensafts geöffnet. Paul Brady, Mike Greaves, vor allem aber Dave Rothary nippen am edlen Tropfen, der möglicherweise berauscht, auf jeden Fall anregend ist. "Gimme Some Wine" ist passend zur Deutschland-Tour erschienen, die noch bis Anfang November andauert.
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Bad Temper Joe "No Filter: One Take Radio Recordings"
Timezone Records, 2021

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www.badtemperjoe.com

Der Bielefelder Troubadour Bad Temper Joe gehört zur Crème de la Crème in Sachen Blues aus Deutschland, speziell dem Blues alter Schule. Das führte ihn im vergangenen Jahr sogar zur International Blues Challenge in Memphis, Tennessee. Mistress Corona hat so einiges verhindert, anderes aber auch erst ermöglicht. Im Rahmen der Konzertreihe "On Stage" des Deutschlandfunks ist die Recording-Session "No Filter (One Take Radio Recordings)" im Bielefelder Watt Matters Studio entstanden (siehe auch Michael van Merwyk oben). Sechs der zehn Stücke stammen vom aktuellen Album "One Can Wreck It All",[74] drei Titel von älteren Produktionen.[59][66][68] Funkelnagelneu ist der unveröffentlichte "Fallin' Bird Blues", die Krönung des Ganzen und das heimliche Highlight. Bad Temper Joe ist der Motor, der mit Fingerpicking und Sliding den Groove vorgibt. Max Dettling an Kontra- und Elektro-Bass glättet die Ecken und Kanten, und Paul Moser am Schlagzeug ist Stütze und Rückhalt. Das Zusammenspiel ist ohne Fehl und Tadel, Resultat ein paar gemeinsamer Jahre; und trotz aller Perfektion gefühlvoll und aus tiefster Seele. Ehrlich, ungeschminkt, ungefiltert!
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Zydeco Playboys "Just Do It"
Timezone Records, 2021

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www.zydeco.de

Der Zydeco ist eine tanzbare Musikrichtung aus Louisiana, die sich im 20. Jahrhundert aus der Vermischung der traditionellen Musik der französisch-sprachigen, Cajuns genannten Einwanderer mit afro-amerikanischem Blues und R&B gebildet hat. Nicht aus dem Süden Louisianas, sondern aus dem Süden Deutschlands kommen die Jungs, die seit 1994 Zydeco spielen.[28][36] Die augenblickliche Besetzung besteht seit dem Jahr 2007, hat aber auch seit dieser Zeit kein Studio-Album mehr gemacht, sondern war nur noch live zu erleben.[36] Sänger und Akkordeonist Oliver E. Kraus, Kopf der Zydeco Playboys, hat nun endlich die Zeit und Muße gefunden, die in diesem langen Zeitraum entstandenen Aufnahmen zu komplettieren. Gründe genug für ein wenig Blues, den gibt es auch auch, aber noch viel mehr Roots-Rock verschiedenster Colour immer mit einem Bein im Zydeco. Der "Wanderlust"-Walzer könnte der Kommentar zur Pandemie sein, wäre es nicht immer schon so eine Art Bandmotto. Es geht querbeet: Rock ’n’ Roll, Psychedelic, Latin, Tex-Mex, auf den Gumbo wird verzichtet und stattdessen cerveza & vino konsumiert. Chuck Berrys "You Never Can Tell (C'est la vie)" wird zydecoisiert. Beim "Gator Groove" bleibt der liebestolle Kroko im Sumpf stecken, da helfen auch keine Voodoo-Zaubersprüche. Zum guten Schluss serviert Gitarrist Volker Klenner noch einen lupenreinen Blues, einen aus eigener Feder und das einzige Stück (außer Chucks natürlich auch), das nicht von Frontmann Oliver E. Kraus stammt. Die Ingredenzien sind so exotisch wie charakteristisch: Akkordeon, Waschbrett und Kuhglocke. Lebenslust und Herzblut. Man darf grooven, klatschen, pfeifen, tanzen, abhotten: Just do it!
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Chris Kramer & Beatbox 'n' Blues "21st Century Blues"
Blow 'Till Midnight, 2021

Chris Kramer "Die Weihnachtsgeschichte"
Blow 'Till Midnight, 2021

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www.chris-kramer.de

Der Dortmunder Mundharmonikaspieler Chris Kramer ist Deutschlands Mister Blues. Um den Blues auch den Jüngeren näherzubringen, hat er das Trio Beatbox 'n' Blues begründet. In dem jungen Sean Athens hat er einen begnadeten Bluesrock-Gitarristen gefunden. Anstelle des Schlagzeugs imitiert Kevin O Neal die Perkussionsrhythmen mit dem Mund (im Hip-Hop Beatboxing genannt). Damit kreierte Kramer einen so noch nicht dagewesenen, unvergleichlichen und - ganz nebenbei - preiswerten Sound :-) Der Erfolg hat ihm Recht gegeben, u.a. mit der Teilnahme an der International Blues Challenge 2017 in Memphis, Tennessee. Und leugnet das Trio auch mit keiner Note die Wurzeln der afro-amerikanischen Musik, so ist mit dem dritten Beatbox 'n' Blues-Album die Kunstform im 21. Jahrhundert angekommen. Die versonnenen Balladen und erdigen Rocker überraschen immer wieder, auch wenn man denkt, man hätte in Sachen Blues schon alles gehört. Kramer ist kein Vokalakrobat, aber mit seinem Gesang lässt sich leben, und sein Mundharmonikaspiel ist in seiner Lässigkeit allererste Sahne. Die Stromgitarre ist schneidend und bissig, die Human Beatbox sorgt für einen coolen Groove; Kevin O Neal steuert auch ein bisschen Rap bei. Gäste hätte es gar nicht benötigt, aber der beseelte Gesang von Cécile Perfetti und das Barpiano von Max Paroth sorgen bei "Midnight in Paris" noch einmal für Abwechslung und einen kleinen Höhepunkt. Da zieht doch Chris Kramer glatt das "Howlin' Wolf T-Shirt" aus und wirft sich in einen schicken Zweireiher. Zum guten Schluss verbeugt sich das Trio mit dem neunminütigen "Together With The Blues" noch einmal vor dem Genre. Es hört sich vertraut an, hat aber die ausgetretenen Pfade hinter sich gelassen.

Article: Chris Kramer

Diese Saison hat Chris Kramer im übrigen auch nach bereits zwei CDs mit Weihnachtsliedern die biblische Weihnachtsgeschichte als Hörbuch herausgegeben. Ausgesuchte Weihnachtslieder sollen den Hörer noch tiefer in die Geschichte ziehen. Die beiden Eigenkompositionen "The Carpenter from Galilee" und "They Will Call It Christmas" geben insbesondere Josef einmal eine Stimme - jenseits der Gestalt als graue Maus oder graue Eminenz.

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Heinz Rudolf Kunze "Werdegang" [Doppel-CD]
Meadow Lake Music, 2021

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www.heinzrudolfkunze.de

Wie es der Zufall so will, hatte ich in den letzten Wochen mal wieder die alten Vinyl-Schallplatten herausgekramt und in alten Erinnerungen geschwelgt. Zu Beginn der achtziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts war der (damals noch so zu bezeichnende) Liedermacher Heinz Rudolf Kunze mit seinem intellektuellen Zynismus Kult. Kunzes erster kommerzieller Erfolgt war seine Adaption des Kinks-Klassikers "Lola". Ein Lied vom 1984er Abbum "Ausnahmezustand", nicht vom Nachfolger "Dein ist mein ganzes Herz", wie es der Waschzettel verlautbart. Mit dessen Titelstück stürmte er dann die Charts ... und verlor einen Teil seiner damaligen Gefolgschaft. Ich möchte behaupten, dass weder alte noch neue Fans sich jemals jenseits der eingängigen Musik und der programmtischen Titelzeile mit dem Text auseinandergesetzt haben. Er ist doch meilenweit von so ziemlich allem entfernt, was heutzutage von den jungen, deutschsprachigen Popmusikanten fabriziert wird. Kunze jedenfalls hat seitdem nie wieder die Pop-Rock-Pfade verlassen, allerdings auch nie inhaltliche Kompromisse gemacht. Ich selbst habe ihn dann nach und nach aus Auge und Ohr verloren. Zum 40jährigen Bühnenjubiläum (nachzulesen in seiner im Reclam-Verlag erschienenen Autobiografie "Werdegang") hat er nun auf dem gleichnamigen Doppel-Album 24 Stücke re-interpretiert (die große Tour ist auf 2022 verschoben). Die Auswahl enthält durchaus Unerwartetes: "Noch hab ich mich an nichts gewöhnt" vom 1981er Debüt "Reine Nervensache" ist die älteste Nummer - und ein fortwährendes Credo. "Götter in Weiss" anlässlich der damals bevorstehenden 500jährigen Wiederkehr der kolumbianischen Entdeckung Amerikas vom Album "Gute Unterhaltung" (1989); damals wie heute glaube ich, dass dies eines der besten deutschsprachigen Rockalben der 1980er mit einer idealen Verknüpfung von Musik und Text ist. Musikalisch schielen die Neueinspielungen auf aktuelle Trends und Hörgewohnheiten. Ich kann neidlos zugeben, dass dies funktioniert, aber ich muss es auch nicht unbedingt mögen. Zumindest wird mir noch einmal klar, warum ich mich selbst schleichend von HRK abgewandt habe; mir scheint, dass aus brüllenden Rocknummern zahnlose Tiger gemacht worden sind. Die Gesamtschau zeigt auch das Positive: Kunze ist kein Konstantin Wecker, der kompromisslos stur den sozialistischen Gang geht, und auch kein Wolfgang Niedecken, der in der Roland-Kaiser-Show auftritt. Wenn er jetzt noch "Glaubt keinem Sänger" angestimmt hätte, würde ich Freudenschreie ausstoßen. Aber wahrscheinlich tangiert das Kunze nur peripher; das Motto hat er selbst ausgegeben: Ich geh meine eigenen Wege, ein Ende ist nicht abzusehn, eigene Wege sind schwer zu beschreiben, sie entstehen ja erst beim Gehn...
© Walkin' T😊M


Hannes Wader "Poetenweg"
Stockfisch Records, 2021

Article: Mir hat das Singen gefehlt

www.hanneswader.de

Anlässlich des bevorstehenden 80. Geburtstags im kommenden Jahr hat Hannes Wader nun doch noch mal das Rentierdasein aufgegeben.[66] Es soll ein neues Studioalbum erscheinen; eine Autobiografie und eine Live-Aufnahme vom September 2021 aus der Deppendorfer Wassermühle liegen bereits vor. Eine musikalische Danksagung an seine Weggefährten, die ihm unweit - er ist aufgewachsen im Poetenweg im westfälischen Hoberge – einen Findling mit der Inschrift "Hannes Wader Aue" gesetzt hatten. "Gut, wieder hier zu sein" eröffnet den musikalischen Reigen. Er ist dankbarer Stimmung und blickt auf ein bewegtes Leben zurück, ungeschönt und kritisch, eine Kindheit ohne Geborgenheit, immer wieder depressiven Phasen. Zwischen den einzelnen Liedern liest er aus seiner kürzlich veröffentlichten Autobiographie "Trotz alledem". Den Durchbruch erlebte er in den 1960ern mit deutschsprachigen Chansons und Talking-Blues auf den legendären Festivals der Burg Waldeck. Die bundesdeutschen Medien hatten ihn dann noch jahrzehntelang boykottiert. An diesem Abend in der Wassermühle brilliert er mit Premieren von Liedern wie "Drei Zigeuner" und "Und am Abend ziehen Gaukler". "Wilde Schwäne" hat er von seiner Mutter gehört; dies Lied hat er dann tatsächlich öfters in Konzerten gespielt. Auch "Brüder, zur Sonne, zur Freiheit", eine deutsche Nachdichtung eines russischen Arbeiterliedes, war etliche Male zu hören, hat aber merkwürdigerweise keinen Platz auf seiner 1977er-LP "Hannes Wader singt Arbeiterlieder" gefunden. Wenig überraschend ist die Konzertzugabe "Heute hier, morgen dort": er ist viel herumgekommen, hat es selbst so gewählt und sich niemals beklagt, doch sein Gesicht ist nicht nur dem Ein oder Anderen im Sinn geblieben.
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Skinny Lister "A Matter Of Life & Love"
Xtra Mile Recordings, 2021

Artist Audio

Artist Video

www.skinnylister.com

"A Matter Of Life & Love" ist das fünfte Studioalbum der Londoner Folk-Punker Skinny Lister.[62] Stilistisch bewegt sich das Dutzend Songs von folkig angehauchtem Punkrock über Ska bis zu einem neuen, selbstverfassten Shanty. Santiano lässt grüßen. "Damn The Amsterdam" über ein ominöses Schiffswrack vor der Küste von East Sussex macht noch einmal die Leinen los dank der herzhaften Gesangsharmonien der Longest Johns.[75] Skinny Lister sitzen allerdings dem historischen Irrtum auf, und wahrscheinlich ist es ihnen scheißegal, bei Shanties handele es sich um Trinklieder. Die Band lässt es mit Kampfgesängen krachen, die nur drei Themen haben: Trinken, trinken und, ach ja, trinken. Die Zeiten sind vorbei, als man links und rechts des Weges mal ein wenig experimentiert hat. Skinny Lister ist vor allem eine Live-Band, und bei dem Konzerten geht ein bemalter Schnapskrug (auf dem Albumcover dargestellt) mit einschlägigem Inhalt ohne Unterlass durchs Publikum. In Corona-Zeiten ist dies nicht unbedingt die Beste aller Ideen. Das Titelstück "A Matter Of Life & Love" ist ungeachtet dessen aus Pandemie und Lockdown entstanden: ein Appell, den Augenblick zu leben, so banal dieser auch erscheinen mag. Eine unvergessliche Nacht in Hamburg, in der die Bandmitglieder mehr als einen über den Durst getrunken hatten, war schon mal eine Hymne wert; diesmal wird die Geschichte erzählt, wie sie in der "Bavaria Area" in eine Polizeikontrolle geraten. Im New-Wave-Rhythmus, das Schuhplattln muss erst noch erlernt werden![75]
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Caitríona O’Leary "Strange Wonders: The Wexford Carols, Vol. II"
Heresy Records, 2021

FolkWorld Xmas

Article: The Wexford Carols

www.caitrionaoleary.com

Im Jahr des Herrn 1684 veröffentlicht der Bischof von Ferns im südöstlichen irischen County Wexford, mit bürgerlichem Namen Luke Waddinge, eine Sammlung religiöser weihnachtlicher Gedichte ("A Smale Garland of Pious & Godly Songs"). Die Verse werden alsbald mit damals in Irland und England populären Melodien gesungen. Anno 1728 gibt Father William Devereux "A New Garland Containing Songs for Christmas" heraus. Zusammen mit dem berühmten "Enniscorthy Carol" (auch als "Wexford Carol" bekannt) aus dem 15./16. Jahrhundert sind die beiden "Girlanden" Bestandteil eines Gesangsrepertoires, das noch heute während der zwölf Weihnachtstage in der Gemeinde von Kilmore vorgetragen wird. Die irische Sängerin Caitríona O'Leary ist für ihre Aufführungen traditioneller und alter Musik bekannt[74] und hat in langjähriger Arbeit einige der verloren gegangenen Melodien rekonstruiert. Der erste Teil der "Wexford Carols" aus dem Jahr 2014 konzentrierte sich auf die bekannten Episoden der Weihnachtsgeschichte und verband irische Musik mit ihren amerikanischen Vettern und Basen. Folgerichtig waren auch Tom Jones, Rosanne Cash und Rhiannon Giddens mit von der Partie; ein voller Erfolg, der Platz 1 der Charts einnahm.[61] Teil 2, "Strange Wonders", nimmt sich ein weiteres Dutzend Lieder vor. Diesmal liegt der Fokus auf den spirituellen und mystischen Aspekten der christlichen Tradition: der Erzengel Gabriel und die Weisen aus dem Morgenland, der Fall Luzifers und die Vertreibung Adams aus dem Paradies, plus den jahreszeitlichen Heiligen wie Stefan und Silvester gewidmeten Stücken. Musikalisch ist da ein wenig Folk und viel klassische Musik. Es ist herzerwärmend, aber einmal ganz anders! Auch das "Orchester" vereint Musiker von Folk und Klassik, also einerseits Seth Lakeman (Viola), John Smith (Gitarre), Olov Johannson (Nyckelharpa) und Mel Mercier (Perkussion), andererseits das Vokalensemble Stile Antico, Clara Sanabras (Barockgitarre), Simone Collavechi (Laute & Renaissance-Gitarre), Alison Balsom (Trompete), Deirdre O'Leary (Klarinette) und John Hearne (Fagott).
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Marvara "High On Life"
Go Danish Folk, 2021

English CD Review

Artist Video

www.marvaramusic.com

Marieke Van Ransbeeck wurde bereits als Kind von traditioneller Tanzmusik in den Bann gezogen. Die flämische Dudelsackspielerin hat zwei Jahre lang in den skandinavischen Ländern gelebt und dabei einen akademischen Abschluss in Folkmusik gemacht. Das Studium in den diversen Musikinstituten in Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland und das Zusammentreffen mit hunderten von talentierten Musikern war eine Erfahrung, die ihr Musikverständnis von Grund auf verändert hat. Marieke verarbeitete all diese Erlebnisse in neuer Musik und gründete das Ensemble Marvara, bestehend aus den Dänen Villads Hoffmann und Frederik Mensink an Cister beziehungsweise Bassgitarre sowie dem schwedischen Perkussionisten Mårten Hillbom und der belgischen Akkordeonistin Hilke Bauweraerts. Es folgt eine Stunde treibende Tanzmusik folkloristischen Stils, modern interpretiert: einprägsame Melodien und funky Grooves, die "high" machen. Geht es auch noch etwas schleppend mit dem "Underground Schottisch" los, ist alsbald eine rauschende Party im Gange. Eine teuflische Polska, ein federnder Walzer, ein nordisches "Polka Battle" und nicht zu vergessen der Kampfgesang einer Horde trunkener Wikinger. Also nicht nur etwas für den Tänzer, sondern auch für den reinen Zuhörer - und auch nüchtern ein Genuss!
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