FolkWorld Ausgabe 32 12/2006; Live-Bericht von Walkin' T:-)M


Die Welt zu Gast bei Freunden
TFF Rudolstadt, 6.-9. Juli 2006

Rudolstadt 2006, photo by Tom Keller

Die Welt zu Gast ... Uh, so ein Klischeetitel jagt mir selbst Schauer über den Rücken. Aber es stimmt ja. Sie sind alle gekommen und wurden aufs Wärmste empfangen. Und das mit den Schauern stimmt auch. Allerdings können Niederschläge natürlicher Art und solche hinsichtlich der Fußball-Weltmeisterschaft Rudolstadt-Junkies nicht davon abschrecken, sich auf dem Tanz- und Folkfestival allerlei folkloristischen Ergötzlichkeiten hinzugeben.

Der D U D E L S A CK stand im Mittelpunkt des Geschehens. Zwei Sackpfeifer haben in derselben Schenke keinen Platz, sagt ein ungarisches Sprichwort. Somit hatte Konzertmeister Mein Vater spielt Dudelsack, photo by Tom Keller Wolfgang Meyering (-> FW#26, FW#28) die undankbare Aufgabe, Instrumente unter einen Hut zu bringen, die nicht gestimmt werden können. Daher wurden auch Musiker eingeladen, die noch andere Instrumente spielen können. Und so erklangen neben den Dudelsäcken von Ungar Bela Agoston, Schotte Fraser Fifield (-> FW#24, FW#26), Bretone Pascal Lamour, Steirer Sepp Pichler oder Iraner Saeid Shanbehzadeh noch Saxophone, Flöten, Keyboards, Cymbalom, sowie diverse Saiteninstrumente und Trommeln.

Um den gelegentlichen Schauern (Regen-, nicht Dudel-) zu entgehen, hätte man dem Vortrag von Ralf Gehler (-> FW#26) im alten Rathaus lauschen und Interessantes über die Magic Pipes erfahren können: Demnach hat es Sackpfeifen wahrscheinlich schon in der Antike gegeben. Kaiser Nero ließ nix anbrennen und spielte die tibia utricularis. Aber erst aus dem Mittelalter sind Abbildungen belegt; die Instrumente sind noch bordunlos mit ein oder zwei Spielpfeifen. Der Dudelsack verbreitet sich in ganz Europa, zugleich wächst die Anzahl der Bordunpeifen. Im 18. Jhd. ist jedoch der Zenit überschritten; die Tanzmusiker greifen zur Geige. Das Instrument überlebt eigentlich nur dort, wo bestimmte Gruppen und Ethnien um ihre (kulturelle) Eigenständigkeit kämpfen: Bretonen (-> FW#9, FW#12, FW#30), Esten, Galizier (-> FW#5, FW#15, FW#16), Schotten (-> FW#14, FW#16, FW#30), Sorben, etc. Erst das Folkrevival entdeckt den Dudelsack wieder. Bela Agoston, photo by Tom Keller Speziell in der DDR ist der mittelalterliche Spielmann, quasi die Ostvariante des Punks, Alternativentwurf zum spießigen Alltag. Deren spezielles Instrument (Osthupe o. A-Schwein) führt zu den gefeierten Gruppen auf den Mittelaltermärkten oder bei den Crossover-Projekten (-> FW#8, FW#25, FW#31).

Zurück in die Gassen Rudolstadts. Zwei Jahre zuvor war Griechenland Länderschwerpunkt des Festivals und prompt wurden die Griechen Fußball-Europameister (-> FW#29). Dieses Jahr ist es F R A N K R E I C H gewesen und die Franzosen wurden ... Knapp daneben ist auch daneben ... O.k., schlechte Anmoderation, noch mal neu: Genau vor 200 Jahren tobte vor den Toren Rudolstadts die Schlacht von Saalfeld, wo gefallen Prinz Ludewig in seinem Blut. Besagter Preußenprinz Louis Ferdinand wäre heute sicherlich ein Festival-Fan. Er spielte Klavier und zwar, nach Beethoven, gar nicht königlich oder prinzlich, sondern wie ein tüchtiger Klavierspieler. Er umgab sich mit Musikern, jüdischen Literaten, Poeten, verkommenen Genies, ja selbst Komödianten und Leuten ähnliches Schlages.

Prinz Ludewig und Bürger Napoleon sind Geschichte, aber die Franzmänner und -frauen sind wieder da. Diesmal mit Musik im Marschgepäck: Nouvelle Chanson und bretonische Pipe-Bands, Musettes, Sinti-Jazz und Vorstadtbeats. Der Star des Frankreich-Kontingents ist der Saitenzauberer Titi Robin (-> CD-Rezension in dieser FW-Ausgabe). Auf Gitarre, Oud und Bouzouki spielt der Westfranzose meisterhafte Gypsymusik, die auf musikalischen Pfaden von Indien bis zum Atlantik wandelt. In viertelstündigen Instrumentalstücken malt Robin mediterane Klanglandschaften und erschafft sich seine ganz eigene Welt(musik). Unbedingt zu erwähnen ist außerdem die Sängerin Fania. Das senegalesische Model spielt zwar nicht im Rahmen des Frankreich-Schwerpunktes, lebt aber überwiegend in Paris. Bei ihrem relaxten Afro-Pop lassen Baaba Maal und Ali Farka Toure aufs Angenehmste grüßen.

Jedes Jahr wird auf dem Rudolstadt-Festival der deutsche Weltmusikpreis R U T H verliehen. (Jüngst hieß er noch "Folkpreis".) Rüdiger Oppermann & Karawane, photo by Tom Keller In der Kategorie "Deutsche Ruth" ging der Preis dieses Jahr an die Liedermacher-Ikone Konstantin Wecker (-> FW#18, FW#22, FW#25). Jurymitglied Hans-Eckhardt Wenzel (-> FW#15, FW#22, FW#26) begründet die Preisverleihung damit, dass Weckers musikalische und literarische Wurzeln sich am intensivsten aus dem lokalen Kolorit nährten, das er mit bedingungsloser Weltsucht auflädt. Die Ehrung gilt denn auch Weckers "Bagdad-Kabul-Projekt", bei dem er gemeinsam mit Musikern aus Afghanistan, dem Irak und der Türkei auftritt. Sein Motto: Miteinander musizieren ist allemal besser als bombardieren. Und: Wer trommelt, ist kein Futter für Fundamentalisten.

Die "Globale Ruth" ging an den Harfenisten Rüdiger Oppermann (-> FW#12, FW#30) - und hier muss man feststellen, dass man beide Kategorien jeweils auch an den anderen Preisträger hätte verleihen können. Aus seinen Klangwelten-Festivals (-> FW#28) hat Oppermann die Band und das Projekt "Karawane" zusammengestellt. Seine üblichen Verdächtigen, darunter Tabla-Spieler Jatinder Thakur (indische Tabla-Trommeln), Enkh Jargal (mongolische Pferdekopfgeige "morin-khoor") und Wu Wei (chinesische Mundorgel "sheng"), bewegen sich musikalisch von Westen nach Osten und verschmelzen lokale Folklore zu einer wirklichen Weltmusik. Der Preis ist somit verdient. Der für sein Lebenswerk muss hingegen noch warten; Oppermann wird noch gebraucht.

Ein weiteres Highlight (ganz subjektiv) stellt die New Yorker Chanteuse Suzanne Vega dar. Selamat Jalan, photo by Tom Keller Ihre Band hat sie zu Hause gelassen und nur Bassist Michael Visceglia mitgebracht. Was ich eher als langweilig befürchtet hatte, stellt sich als das Gegenteil heraus. Suzanne beherrscht den großen Platz auf der Heidecksburg und hat das Publikum fest im Griff. Das ist natürlich gekommen, um ihre großen Hits aus den 80ern zu hören, Neo-Folk nannte man diesen mehr oder minder akustischen Pop damals. Suzanne spielt aber auch einige brandneue Songs. Immerhin ist ihr letztes Album im Jahre 2001 erschienen.

Es gab wieder so vieles zu sehen und zu entdecken: 20 Bühnen mit rund 1000 Künstlern aus über 40 Ländern. Viel zu viel, um alles aufzuzählen. Also nenne ich nur noch stellvertretend: die Grazer Folkjazzer Beefolk (-> FW#28), die mexikanische Diva Lila Downs (-> FW#24, FW#29), und der auf seinen jüdischen Wurzeln wandelnde Willy Schwarz (-> FW#22). Auf den Straßen und in den Gärten musizieren Gruppen wie Triskilian (-> FW#28) sowie Selamat Jalan und Rada Synergica (-> CD-Rezensionen in dieser FW-Ausgabe). Und die Atmosphäre kann man schon mal gar nicht beschreiben: Die Alten und die Jungen, von der Wiege bis zur Bahre, berockte Herren, aber auch ganz normale Zeitgenossen.

Während ich dies schreibe, fällt mir eines auf: Das Interesse der Programmmacher verschiebt sich offenbar immer mehr in Richtung Weltmusik und Ethnopop. Folk im engeren Sinne ist auf dem Tanz- und Folk-Festival (seit einigen Jahren zu TFF abgekürzt) ziemlich unterrepräsentiert. Bilwesz, photo by Tom Keller Folk ist verjazzt oder verrockt oder gibt es fast nur noch im Straßenmusik- und im Mitmach-Tanz-Programm. Diese Kursänderung könnte auch die Ursache dafür sein, dass viele Folkies dem TFF in den letzten Jahren den Rücken zugekehrt haben. Insbesondere die Jungs und Mädels aus der nicht gerade kleinen Kelten-Szene sind so gut wie gar nicht im Publikum vertreten. Aber bei 65.000 Besuchern an diesem Wochenende kann das den Rudolstädtern auch wieder egal sein.

Eine löbliche Ausnahme ist die Einladung des deutsch-österreichischen Trios Bilwesz (-> FW#29), das neben der schweisstreibenden Arbeit im Tanzzelt ein Konzert in der schönen Stadtkirche geben darf. Merit Zloch (Hakenharfe, Gesang; mit Malbrook letztjähriger Ruth-Preisträger -> FW#31), Simon Wascher (Drehleier) und neuerdings zusätzlich Matthias Branschke (Schäferpfeife, Flöte) nennen ihre Musik selbst Agri-Pop: Popmusik aus dem ländlichen Raum zwischen Ostsee und Alpen zwischen dem 16. und 19. Jhd. Die Tanzmusik ist durchaus modern interpretiert und arrangiert und zeigt vor allem, dass es noch mehr gibt als die üblichen Schottische und Bourrees.

Bilwesz ist auch deshalb unbedingt zu nennen, wo doch in manchen Teilen der Presse schon von einem neuen Deutschfolk-Revival die Rede ist. Auf dem TFF gab es tatsächlich eine Podiumsdiskussion unter dem Titel Revival des Revivals - Kehrt das deutsche Volkslied zurück? Die beiden Gruppen, die den Euphorismus (ARD-Fußball-Deutsch) hervorgerufen haben (Deitsch -> FW#31, Schöne Weile -> CD-Rezension in dieser FW-Ausgabe), sind allerdings nicht in Rudolstadt vertreten. Dafür singt die Hallenser Popsängerin Bobo (White Wooden Houses) deutsche Volkslieder über Liebe, Leid und Tod. Christian Haase, photo by Tom Keller Das "Wildvögelein" fliegt so schwermütig wie selten und die "Dunkle Wolk" geht düster am Himmel einher. Pop goes Folk! Und umgekehrt: Folk goes Pop! Die Sieben Leben sind Ostfolk-Urgestein, das unkaputtbare Nachfolgeprojekt von Folkländer / Bierfiedler (-> FW#19). Aber was in den 70ern so vielversprechend begonnen hat, ist nur noch verquaster Schlager und wird westlich der Elbe wohl keine neuen Freunde finden. Drafi Deutscher ist tot, es lebe die Sieben Leben!

Apropos, Drafi! Der Leipziger Liedermacher Christian Haase ist Gundermann reinkarniert (-> FW#9, FW#11). Haases Programm - ob solo oder mit rockiger Band - besteht zu einem Drittel aus Gundi-Stücken und zu zwei Dritteln aus eigenem Material. Dabei ist Haase auf demselben Trip wie der verstorbene Baggerfahrer aus Hoyerswerda. Ein zweischneidiges Schwert, aber da kann noch was draus werden. Besagter Haase singt zum Abschluss "Marmor, Stein und Eisen bricht". Einige Zuhörer machen begeistert mit, andere sind total schockiert. Aber Haase fragt sich, wo denn das Problem dabei sei, das Leben ist doch geil! Und da hat er auch nu wieder recht.

Alles, alles geht vorbei, doch wir sind dir treu ... Das könnte das jährliche Rudolstadt-Motto sein! Und das war es dann dieses Jahr auch schon wieder. Wie schrieb ich zu Beginn? Die Welt zu Gast bei Freunden! Freunde und Freundlichkeiten in Rudolstadt. Na ja, fast überall in Rudolstadt. Abgesehen von einer Begegnung der fünften Art im Kartoffelhaus ... Da gehen wir lieber zum Italiener speisen. Die sind ja auch Weltmeister geworden und nicht die Deutschen.

Festival-Homepage: www.tff-rudolstadt.de

Die TFFs der vergangenen Jahre: 2005, 2004, 2003, 2002a, 2002b, 2001a, 2001b, 2001c, 2000a, 2000b, 2000c, 2000d, 1999a, 1999b.

Photo Credit: (1) & (2) Rudolstadt-Impressionen; (3) Bela Agoston; (4) Rüdiger Oppermann & Karawane; (5) Selamat Jalan; (6) Bilwesz; (7) Christian Haase (by Walkin' Tom).


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© The Mollis - Editors of FolkWorld; Published 12/2006

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